Leserclub„Willst bösen Jungen sehn? Kommstu runter?“ – Wie sollte Herr L. da widerstehen? Mitten in der Nacht? Von seiner Anvertrauten in die Zange genommen? „Du gehst da jetzt nicht runter. Weißt du, wie spät es ist?“ Ihr Atem war wirklich beraubend und L. hatte gut Lust, dem Ruf der Nähe zu folgen. Aber: „Sie haben Olegs Auto zertrümmert.“ Da ließ sie ihn frei.

Oder los. Wer solche Nächte kennt, weiß, wie man da erst richtig friert. Auch wenn man sich drei Pullover über das Schlafhemd zieht und eine Wollmütze über den Kopf. Und die Taschenlampe mitnimmt und den Schürhaken. Na gut, Schürhaken hatten sie keinen mehr. Zur illegalen Beschaffung eines Westerncolts hatte sich Herr L. noch nicht entschließen können, also nahm er den Fleischklopfer mit. Man wusste ja nie, wem Oleg und Oleg da draußen begegnet waren.

Tatsächlich war’s dann nur einer, den ein ergrimmter Oleg am Schlafittchen hielt. Ein Bürschlein von Fliegengewicht und im Mondlicht leidlich blass. Was täuschen konnte. Vielleicht war ihm auch nur schlecht, weil Oleg ihn grimmend schüttelte. Immerhin war der „Tschaika“ ein mit Liebe gepflegtes Automobil gewesen. Jetzt sah er sehr zerdellt und zersplittert aus. Zwei Eisenstangen erzählten davon, wie hier noch vor wenigen Minuten gewütet worden war. Da und dort waren Lichter in den Fenstern angesprungen, sah man schemenhafte Gestalten, die herunterschauten. Vielleicht riefen sie die Polizei. Vielleicht auch nicht. In der Stadt L. wusste man das mittlerweile nicht mehr so genau, weil niemand gern mit frustrierten Beamten telefonierte, die einem schon mit unfreundlichem Unterton erklären konnten, dass man seit Stunden alle Wagen im Einsatz hatte und für einen versuchten Autodiebstahl nun wirklich kein Fahrzeug mit Blaulicht schicken würde.

So ungefähr.

Vielleicht schauten sie also auch nur nach ihren eigenen Autos. Und frönten dann noch ein bisschen der Neugier. Aber viel sehen konnten sie eh nicht. Olegs Freund Oleg war mit dem kleinen wimmernden Bürschlein in eine schattige Ecke gegangen. Herr L. hörte sie brummeln, augenscheinlich in schönem originalen Petersburger Straßenrussisch. Deswegen verstand er kein Wort, stand eher etwas ratlos mit seinem Fleischklopfer da.

„Wolltest wohl mitmachen, du Schlawiner“, fragte ihn sein großer Freund.

„Nu ja“, brummte L. „Für große Fleischmassen ist der eigentlich ganz praktisch, weißt du?“

„Ist aber nur noch kleine Häuflein Hosenscheißer da. Willst du den bisschen foltern?“

„Och nö. Das kriegt doch Oleg schon ganz gut hin.“

„Oleg foltert nicht. Er fragt nur ganz zärtlich. Chörst du nicht?“

„Aber ich versteh kein Wort.“

„Chat eigentlich schon alles verraten, das Bürschlein. Gechört zur Kloppertruppe von Iwan der Schreckliche.“

„Muss ich den kennen?“

„Ist alte Kollega von Oleg. Kennt er noch gut. Waren mal bei in selbe Gewerbe. Freundschaftsdienste für reiche Männer, weisstu schon.“

„Und nun nicht mehr?“

„Gibt paar Leute, für die wird Oleg nicht wieder arbeiten. Ist ihm zu cremig, weisstu? Aber Iwan ist da nicht so. Willstu anrufen?“

„Ich? Ich kenn den Kerl doch gar nicht.“

„Klar kennst du. Ist schöne fette Bodyguard auf viele von deine Fotos in Zeitung. Schmalzlocke, Sonnenbrille, Knopf in Ohr.“

„So sehen die doch alle aus.“

Oleg rief trotzdem an. Wenn man Dinge klären muss, dann sollte man nicht warten, bis der Hahn kräht. Und auch dieses Gespräch fand auf Russisch statt. Womit L. wieder was gelernt hatte über das Sicherheitsgewerbe in seiner geliebten Stadt. Aber irgendwer musste ja auch diese Jobs machen. Diese ganzen hübschen Tätigkeiten in einer Welt, die er jeden Tag in der Zeitung als das „Who is who“ von L. beschreiben musste (und wer seine Texte las, wusste, wie satirisch er dabei manchmal werden konnte mittlerweile), der eine als Paragraphenverdreher, der andere als Chauffeur oder Muskelschrank. Oder eben auch mal als kleine Scherbentruppe, die irgendjemand anderem aus diesem Tümpel der Eitelkeiten zeigen sollte, wo der Hammer hängt und wo die Grenze ist, an der bestimmte Leute unwirsch werden.

Nur hatten sie diesmal augenscheinlich den Falschen erwischt. Oder den Richtigen. Auch wenn sich das, was Oleg in sein kleines Telefon murmelte, eher anhörte wie ein kleines Geschäftsgespräch. Der Herr Iwan am anderen Ende schien zwar recht mürrisch, ließ sich dann wohl aber doch auf eine Verhandlung ein. Zumindest L. schien das so, der sich mit Fleischklopfer im Anschlag dann doch ein wenig näher wagte an Olegs Freund Oleg, der ihn über die Schulter hinweg fröhlich angrinste.

„Musst keine Angst chaben. Ist nur kleines Früchtchen aus Iwans Truppe. War nicht fix genug. Und nun soll ich ihm rufen seine Mama.“

„Wirklich?“

„Is so kleiner dummer Schlingel, siehstu? Zu dumm zum Selberdenken. Sagt Iwan: Geh los, mach Rabatz, geht er los wie stolze Belmondo. Und glaubt wunder, was für Kerl zu sein. Siehstu? Nu flennt er auch noch.“

„Aber was hat Iwan gegen dein Auto?“

„Iwan dumm wie Bohnestroh. Wirste sehn, wenn du kennenlernst. Sagt ihm Auftraggeber: Geh los, hau denen ihr Auto in Schrott, geht er los. Denkt nicht nach.“

„Welcher Auftraggeber?“

„Weisstu du doch. Dicke Herr Chaifisch, wo wir waren heute Nachmittag am See …“

„Gestern“, warf L. dazwischen.

„Ist doch Bohnestroh, gestern, cheut. Dumme Wachmann ruft große Boss an, Boss ist beleidigt, schickt dumme Iwan los, Iwan schickt kleine Würstlein los – und da chast du eins.“

„Bloß weil wir sein schönes Seegrundstück besucht haben?“

„Ist er aufgeregt wie Bienenschwarm, musst du glauben. Nicht erst seit cheute.“

„Darf ich raten?“

„Was denn raten?“

„Seit drei Tagen?“

„Wocher soll ich wissen? Frag Oleg, der erzählt doch die ganze Zeit schon, wie du jagst Chaifisch. Oder jagst du gar nicht Chaifisch?“

„Eigentlich nicht“, sagte L.

Scherben knirschten, als sein Freund Oleg sich näherte. „Mama kommt“, sagte er. „Chab ich auch glaich angerufen.“

Und Mama kam auch wenig später. In einem kleinen, klapprigen Automobil in das sie das zitternde Bürschlein verfrachtete, noch während es eilig in einen ganzen Schwall von Erklärungen ausbrach. Natürlich auf Russisch. Das hört sich sehr erstaunlich an, wenn eine doch eigentlich junge und gutfrisierte Frau mit einer Wolke blumigen Parfums dabei überhaupt nichts sagt, sondern das Bürschlein nur am Ärmel packt, ins Auto schiebt, die Tür zuschlägt und dann flott davonbraust.

„Waiwai“, staunte selbst Oleg, als er das sah. Und sein Freund Oleg blieb noch ein bisschen länger sprachlos. „Also meine Mamutschka war nicht so streng …“

„Meine auch nicht“, sagte Oleg.

„Und nu? Was chat Iwan gesagt? Macht er mein Autochen wieder heile?“

„Du sagst es. Und Schmerzensgeld kriegst du auch.“

„Schmerzensgeld? Aber mir tut doch gar nichts weh?“

„Und deine Tschaika?“

„Chast du auch wieder Recht. Cheul ich nachher bisschen in mein Kopfkissen. Wird bestimmt wieder gut.“

„Wird noch besser“, sagte Oleg.

„Noch besser?“

„Noch viel besser. Morgen besuchen wir Chaifisch.“

Da fröstelte L. dann doch auf einmal. Denn einen Besuch bei dem Mann hatte er nach seinem letzten Anruf nicht mehr auf dem Plan. Wer schon beim Versuch, einen Termin zu vereinbaren, mit dem Anwalt droht, der ist nicht unbedingt ein Wunschkandidat unter den Leuten, die ein müder Stadtreporter gern interviewen möchte. Denn was soll man Leute fragen, die auf neugieriges Nachfragen mit Wutausbrüchen reagieren? Das soll zwar heutzutage normal sein in der Welt, nicht nur in L. Aber was für einen Grund sollte es geben, sich daran zu gewöhnen? Oder das gar für eine normale Umgangsform zu halten? Selbst in seinen ersten Monaten bei der Zeitung hatte ihm sein mürrischer Vorgesetzter immer eingebläut: „Sei höflich zu den Leuten, nimm sie ernst, versuch sie zu verstehen, auch wenn sie sich selbst schlecht benehmen … aber keine Bange: Die meisten Leute benehmen sich. Die haben Respekt vor der Presse.“

Da hatte selbst dieser alte Herr gestrahlt, richtig stolz auf seinen Beruf und seine Zunft.

Und heute?

„Keine Bange, wir kommen mit, alle drei, wirst sehn. Und Iwan wird seinen Jungs sagen, dass sie brav sein sollen, ganz brav, sonst gibt’s große Remmidemmi.“

„Wer ist der Dritte?“

„Ist gute Bekannte von uns. Wirstu sehn. Gehstu zu Chaifisch, nimm deine Anwalt mit, chat mein Vater immer gesagt. Der kennt sich aus. Große Tiere werden ganz brav, wenn Anwalt dabei sitzt. Und wenn sogar Anwältin dabei ist, dann schnurren sie wie Kätzchen.“

„Haifische schnurren aber nicht.“

„Wirstu sehn. Chaifisch wird schnurren. Und chintercher wird verchandelt.“

„Und ich werde todmüde vom Stuhl fallen.“

„Dann geh noch ein bisschen schlummern mit Mascha. Chat auch schon angerufen, wo du bleibst.“

„Bei dir?“

„Na du chast ja nur Fleischklopfer mitgenommen und Telefon einfach liegen gelassen. Was soll sie tun? Chunterkommen mit Nudelcholz?“

Aber eigentlich wollten die beiden Olegs ihn nur loswerden. Herr L. sah sie noch innig tuschelnd auf der Straße stehen, zwei Burschen, hinter denen man sich verstecken konnte, wenn einem danach war. Sie steckten ihre Köpfe zusammen und heckten Dinge aus, die sie ihm nie verraten würden. „Musst nicht alles wissen, ist nicht gut für Zeitungsmann“, hatte ihn Oleg einmal getröstet, als er sich bei so einer Tuschelei irgendwie ausgegrenzt gefühlt hatte. Oder war er nur zu neugierig? Denn was er nicht wusste, konnte ihm auch nicht unversehens in einen Artikel geraten, den er im Eifer des Gefechts für die Zeitung schrieb. Manchmal waren es Halb- und Viertelsätze, die für kleine Erdbeben sorgten. Erdbeben, die man eigentlich nicht brauchen konnte. Erst recht nicht, wenn man sowieso schon schlecht schlief.

Schlief er noch in dieser Nacht?

Vielleicht.

Zumindest fühlte er sich umschlungen. Daran erinnerte er sich noch. Aber den Rest sah wohl nur der Mond. Aber den kann man nicht fragen.

Die ganze Geschichte zum Nachlesen.

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