LeserclubIrgendwann in dieser ziemlich turbulenten Nacht mussten sie dann tatsächlich jemanden aufgeschreckt haben, der so viel Neugier überhaupt nicht goutieren konnte. Die Bilder der Nacht blitzten zwar nur noch fetzenweise durch den arg dröhnenden Kopf von Herrn L. Ein Kater kam drin vor. Ein paar dunkle Gestalten. Aber auch ein lichter Moment.

„Aber was suchen wir eigentlich? Was bezweckt diese Fahrt durch die Nacht? Begreif ich das nur nicht“, fragte Herr L. irgendwann. Da hatte er längst das Gefühl, dass sie nicht allein durch die Nacht fuhren. Immer wieder blitzten Scheinwerfer hinter ihnen auf.

„Soll ich richtig Gas geben, Fräulein Margarita?!“

„Hüten Sie sich“, sagte die Diva. Es klang eher wie Schnurren. Leicht angeheitert. Der Sekt sorgte für eine gewisse Flughöhe. Vielleicht flogen sie auch. L. jedenfalls spürte den unbequemen Sitz nicht mehr. Und dass die Lichter hinter ihnen immer näher kamen, besorgte ihn nicht einmal. Warum auch. Hatten sie tatsächlich jemanden aufgeschreckt? Aber wen? Den Abgeordneten mit seiner lichtergleißenden Trutzburg? Wer mochte so leben? Wer konnte sich in seinem armen Hirn überhaupt ausdenken, so leben zu wollen, immerfort von Kameras und Wachen umgeben. Immer in Angst – aber vor was? Vor den unberechenbaren Leuten da draußen? Hatte der Kerl so ein schlechtes Gewissen? War das Angst, die in seinen Augen glitzerte, wenn er sich mit breitem Lächeln vor der Kamera postierte? Denn dass dieser Mann nur ein aufgesetztes Lächeln trug, das war längst kein Geheimnis mehr. Die Fotografen stritten eher darüber, ob das nun reine und erbarmungslose Leere war in seinen Augen oder der lauernde Blick eines Raubtieres. War dieser Mann der TIGER in der obskuren Herrenrunde? Oder doch eher der Hai, der seine Beute umkreiste?

Was für Gedanken. Das musste der Sekt sein. Was denn sonst?

„Und du weißt wirklich nicht, was hinter all den Häusern steckt? Habt ihr damals alle geschlafen?“

Dass es keine verwunschenen Häuser waren, das wusste L. Die meisten waren Bürohäuser mit noblen Adressen, mit Rechtsanwaltskanzleien, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern. Orte, die einer wie L. nie aufsuchte. Weil es dort keine Geschichten zu finden gab. Geschichten wohl – mehr als genug. Aber an die würde einer wie er nie gelangen. Es sei denn, sie landeten vor Gericht und einer aus ihrer Redaktion hatte die Zeit, sich durch lange Rechtsstreitigkeiten zu sitzen, in denen es um Verträge, Klauseln und Nebenabsprachen ging. In denen die eigentlichen Beschuldigten nie erschienen, nur ihre Anwälte, die das Prozedere so professionell abwickelten, als würden sie im Leben nichts anderes tun, so emotionslos, dass ein zufälliger Besucher nie gemerkt hätte, dass es um Millionen ging. Um vorsichtige Tänze um vage Formulierungen herum. Ein falscher Schritt …

Nein.

Das meinte die Diva ganz bestimmt nicht.

„Du erinnerst dich noch an Don Leone?“

Er erinnerte sich.

In seinem Kopf hatte sich so Vieles abgelagert, was er längst verschwunden glaubte. So wie die Zeitungsgeschichten von damals verschwunden waren. Niemand kroch mehr in die alten Archive, kämpfte mit Staub und Unübersichtlichkeit. Und Vieles war sowieso nicht gedruckt worden, weil selbst der bärbeißigste Redakteur irgendwann die Finger davon ließ, wenn einfach niemand Auskünfte geben wollte. Selten war so viel Schweigen selbst in den Gängen des Rathauses gewesen wie damals, nur wenige Monate nach dem großen Rambazamba, als in der Stadt auf einmal Pizzerien eröffneten und Weinrestaurants mit klingenden Namen wie Roma, Venezia, Ravenna und Florenzia – strahlend erleuchtet. Ein heller Glanz, der die Stadt einhüllte und trunken machte.

Und das eine oder andere dieser glänzenden Ristorantes mit den übereifrigen Kellnern wurde tatsächlich zum Treffpunkt der neuen Reichen und Erfolgreichen. Wo sie saßen und sich bedienen ließen und das exotische Flair genossen, so galant wie diensteifrig, dass man sich nur geschmeichelt fühlen konnte.

Einige dieser Häuser hatten sie abgefahren in dieser Nacht, manche noch immer durchglänzt und im Betrieb, auch wenn L. daran zweifelte, dass auch nur ein einziges dieser noblen Etablissements die Miete einspielte. Wenn denn überhaupt jemand Miete kassierte und der schöne Schein nicht tatsächlich nur ein Schein war.

„Don Leone?“

„Ja, der allgegenwärtige Don Leone, der überall schöne Häuser kaufte und alle seine Vettern und Verwandten mitbrachte, um hier ein bisschen bella italia zu zaubern …“

Wäre ihnen nicht mit aufgeblendeten Scheinwerfern ein weiteres Auto entgegengekommen, sie hätten vielleicht noch die ganze Don-Leone-Geschichte aufgewickelt wie einen Garnfaden. Aber dazu kam es nicht. L. erinnerte sich an das grelle Gleißen von vorn und das ebenso gleißende Scheinwerferlicht von hinten, an Olegs vorsichtigen Einwand, er könnte ja versuchen, dem alten Wolga noch mal richtig „Feuer unterm Chintern zu machen“.

„Wage es nicht“, sagte die Diva.

Und es klang nicht so, als drohte sie ihm. Eher, als ahnte sie, was für Gestalten da aus den beiden schwarzen Limousinen steigen würden, um mit dem Gang von Leuten auf sie zuzukommen, die alle ein kleines, schweres Schießeisen unter dem Arm haben. Tatsächlich – alle trugen sie schwarze Anzüge. Sonnenbrillen, auch das noch.

„Muss ja wohl der falsche Film sein“, sagte L.

„Sind jedenfalls keine Russen. Chaben wir wohl paar Chunde aufgeschreckt. Und wir chaben keine Wurst mehr. Was soll ich tun?“

„Gar nichts“, sagte die Diva und stieg aus, etwas schwankend, das darf man sagen. Der Sekt tat auch bei ihr seine Wirkung. Sie musste sich an der offenen Tür festhalten. Das Filmset war gut beleuchtet, wenn das denn ein Filmset war. Und nicht ein furchtbar schlechter Plot mit vier Herren in dunklen Anzügen, von denen einer irgendetwas sagte. Vielleicht zu Oleg, der das Seitenfenster heruntergeleiert hatte und etwas zurückbrummte. Aber was, das bekam L. sowieso nicht mehr mit. Weil der Sekt jetzt tatsächlich seinen Tribut forderte. Er war ganz damit beschäftigt, sich aus dem Gurt zu winden, die Tür aufzustoßen und sich in größtmöglicher Eile hinauszuwälzen, um nicht alles in Olegs gepflegtes Auto zu entlassen, was jetzt herauswollte.

Und es wollte alles heraus. So dass Herr L. möglicherweise nicht nur den besten Dialog des Abends verpasste, sondern ihn auch noch verdarb.

Denn einer von den Herren – der Kleinere, etwas Mollige mit den grauen Haarlocken – hatte sich wohl einen richtig guten Text einfallen lassen. Leicht mit Drohungen untersetzt. Vielleicht auch schon mit Pointe, so einem Moment, in dem die Herren ihre Waffen aus der Kleidung holen und dann den Wolga und alle seine Insassen genüsslich durchsieben würden. L. jedenfalls rechnete damit, dass einer von denen angesprungen käme und ihm – noch während er so ganz und gar damit beschäftigt war, den ganzen schönen Sekt in die Landschaft zu speien – ein paar Kugeln in den Leib zu schießen. Zerfetzte Kleidung, spritzendes Blut, ein scharfer Schmerz, Beethovens Eroica, lächerliches Ende.

Aber keiner kam gesprungen.

Nur die Stimme der Diva hörte er heraus, ein gelles Lachen, übermütig, am Ende schien sie die vier schwarzen Männer regelrecht zu verhöhnen. Irgendetwas blaffte der kleine Dicke zurück. Ein paar hingespuckte Erwiderungen und ein „Avanti!“

Und dann entfernten sich die Schritte, klappten Autotüren, quietschten Reifen und die grellen Lichter fuhren davon.

„Geht’s dir wieder besser, Schäfchen?“

Mascha kümmerte sich tatsächlich um das zitternde Elend L. Auch wenn sie ihn lieber nicht berührte. So gut roch er jetzt bestimmt nicht, vom fatalen Geschmack im Mund erst gar nicht zu reden. Nur Oleg hatte das richtige Heilmittel. „Putz dir Zähne, chilft immer.“

Und das Wässerchen half. Wärmte sogar. Nur das Taschentuch, mit dem er sich das Gesicht noch abgeputzt hatte, warf L. lieber in die schwarze Nacht hinaus, die jetzt eher wieder rötlich glomm, seit die schwarzen Limousinen mit den grellen Scheinwerfen verschwunden waren. Der Wolga selbst verbreitete eher ein Funzellicht.

„Und was war das nun, liebste Diva?“, fragte L.

„Genau, was du denkst, mein lieber L. Eine kleine Einschüchterung für einen kleinen, nervigen Zeitungsredakteur. Er hat gesagt, dass er dir die Eier abschneidet, wenn du ihm auf die Pelle rückst.“

„Ich kenne den Kerl überhaupt nicht.“

„Solltest du aber. Ist der kleine Bruder von Don Leone.“

„Hier ist doch nicht Sizilien.“

„Ist nicht Sizilien“, mischte sich Oleg ein. „Ist Kalabrien.“

Wo ist da der Unterschied?, hätte er noch gern gefragt, unterließ es aber lieber. Eigentlich sehnte er sich nur noch nach seinem Bett und einem langen Wochenende, an dem niemand von ihm erwartete, dass er die Welt rettete. Oder irgendeinen Zipfel von dieser Welt.

„War das nun eine Warnung? Eine Einschüchterung? Oder hab ich den Blödmann tatsächlich verärgert? Kannst du mir das sagen?“

Kicherte die Diva? Machte sie sich lustig über ihn?

Hatte sie überhaupt geantwortet? Wenn er seine zerfetzten Erinnerungen an diese Nacht durchwühlte, hatte er durchaus das Gefühl, dass sie etwas gesagt haben musste. Etwas, das ihn noch mehr verwirrte, weil es so klang, als sei der stadtbekannte Don Leone ein wenig besorgt. Ein wenig sehr besorgt. Was bedeutet das, wenn einer wie Don Leone besorgt ist?

„Soll ich euch bringen gleich in Bett oder wollt ihr noch feiern heut Abend in Café Venezia? War doch nette Einladung von Don Leone“, knurrte Oleg, dem zumindest die letzte Begegnung gewaltig gegen den Strich zu gehen schien. Aber als sich dann zwei für die Heimfahrt entschieden, blieb ja nur noch die Diva, die auf einmal Lust zu haben schien, die Einladung ins Venezia anzunehmen.

„Das muss sein“, sagte sie.

Fuhren sie tatsächlich noch am Venezia vorbei? Oder endete die Fahrt mit den quietschenden Reifen, als ein schwarzer Kater vor ihnen über die Straße jagte. Quietschende Reifen, ein paar Lichtblitze, Schnitt und aus?

Herr L. wusste es nicht. Sein Kopf schien zu platzen.

„Sie sollten wirklich nicht so viel trinken in ihrem Beruf, Herr L. Sind Sie nun munter?“

„Ich will nicht munter werden. Ich will lieber schlafen.“

„Das ist Hamlet. Das passt nicht zu Ihnen. Waschen Sie sich das Gesicht. Ich hole Ihnen einen Kaffee.“

Venezia? Hatte er tatsächlich noch mit Don Leone Brüderschaft getrunken? Nicht auszudenken. Am meisten schmerzte ihn die Stelle, an der er mit seiner Stirn gegen die Windschutzscheibe geprallt sein musste. Nur ein schwacher Kaffeegeruch erinnerte ihn daran, dass er sich auch für diese Welt hier entscheiden konnte. Die langweilige. In der Kaffee nach Kaffee schmeckte und anständige Bürger jetzt brav an ihren Schreibtischen saßen und geschäftig taten.

Und ein Kopf sich anfühlen konnte wie ein überfahrener Frosch.

Vorsicht, warnte L.s Magen.

Ist mir doch egal, sagte L.s Kopf.

„Ich glaub, ich bin wach“, sagte Herr L.

Die ganze Geschichte zum Nachlesen.

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