LeserclubDer Anruf kam, als Herr L. gerade überlegte, ob er den vier (oder waren es fünf?) großen Tassen Polizeikaffee noch drei, vier italienische Espressi würde folgen lassen, um das Hummelnest in seinem Kopf einigermaßen in den Griff zu bekommen. „Ah, guten Morgen, Herr L. Wie geht es Ihnen? Ich hoffe guuuuuuut?!“, flötete es in L.s Ohr. Die Stimme kannte er. Da brauchte sein Kopf nicht mitzudenken. Flugs war L. unterm Schreibtisch. Und wartete auf scheppernde Scheiben.

Aber natürlich schepperten keine Scheiben. In L. scheppern keine Scheiben. L. ist ein friedliches Nest mit völlig durchschnittlicher Mordrate, der üblichen Dunkelziffer und drei überlebenden Polizeireportern, die vor Freude an die Decke sprangen, wenn mal wieder irgendwo eine freundliche Leiche auftauchte. Und sei es nur die eines lange nicht vermissten Rentners, der die schönen Jahre nach seinem Ableben vor einem flackernden Bildschirm verbracht hatte.

Eine Stadt, in der mehr Hunde durch falsches Verhalten im Straßenverkehr ums Leben kamen als – sagen wir mal – Investmentmanager bei Einsicht in ihr zurückliegendes Fehlverhalten.

Und L. hatte eindeutig zu viele Italo-Western und Mafia-Filme gesehen. Und zu viele Krimis über Rom, Florenz und Neapel gelesen. Oder besser: verschlungen. In dieser Beziehung war er ein Vielfraß, ein unersättlicher. Und unbelehrbarer. Und die Bilder im Kopf entstehen ja, weil sie so eindrucksvoll sind. Wer wusste das besser als er? Ein kleines Gitarrenklingen, ein tuckernder Vespa-Motor, ein zarter Pizza-Geruch im Vorbeilaufen, und in Herrn L. entfalteten sich alle Sensoren, schaltete das Unterbewusstsein auf Schwarz-Weiß, wurde jeder Schatten zur Ahnung einer latenten Gefahr …  gleich würde eine schwarze Karosse um die Ecke geschossen kommen, ein paar dumpfe Schüsse, ein zerbrochenes Glas, ein friedlicher Gast, der mit überraschtem Lächeln kopfüber in seine dampfenden Spaghetti Carbonara fiel …

„Hallo? Herr L.? Was machen Sie denn da? Ist ihnen nicht gut?“

„Doch doch, Signore. Bei mir ist alles gut“, sagte L. So ruhig wie möglich. Leicht untermalt von Zähneklappern. (Reiß dich zusammen, L. Du bist hier nicht im Film! – Aber …)

„Ich dachte schon, ich hätte Sie erschreckt. Das täte mir wirklich leid, mein Lieber. Das würde mir mein Mammale niemals verzeihen. Aber sie sind jetzt nicht vom Stuhl gefallen, oder?“

Die Stimme war ein ganzes Straßenorchester – mit Bass und Tschinellen und fröhlichen Flöten im Hintergrund. Anders kannte L. den stadtberühmten Don Leone überhaupt nicht. Eine Ein-Mann-Show der guten Laune, die ganze „Ode an die Freude“ in zwei rundlichen Zentnern, stets blendend frisiert und auf Hochtouren redend und gestikulierend und das Personal anweisend wie ein Stierkämpfer. Wenn er denn Spanier gewesen wäre. Aber die Gerüchte verorteten den Unermüdlichen, der das biedere Städtchen L. dereinst in ein Klein-Venedig verwandelt hatte, irgendwo im Sizilianischen, vielleicht auch in Neapel. So genau fragte niemand mehr. Zumindest L. nicht, seit er vor Jahren mit dieser unverschämten Frage eine ganze Opernarie ausgelöst hatte, in der Don Leone sich gar nicht wieder einfangen konnte beim Erzählen von „mia familia“.

Wer nicht fragt, hört seltener quietschende Reifen.

Aber heute?

„Natürlich bin ich vom Stuhl gefallen, Signor Leone. Was denken Sie denn? Ich bin ein schreckhafter Mensch.“

„Sie belieben zu scherzen. Sie haben nur in aller Hektik die Kaffeetasse umgestoßen und das Bild ihrer Liebsten dabei mit umgeschubst …“

Schweigen. Tief einatmen. Ausatmen. In Deckung bleiben.

„Sind Sie noch dran?“

Einatmen.

„Ja, Herr Leone. Ja. Sie haben Recht. Und jetzt reicht es eigentlich. Wenn Sie anfangen, meine Liebste ins Spiel zu bringen, reicht es. Dann platzt mir der Kamm. Sie wissen, dass ich Sie eigentlich mag. Wie ich alle freundlichen Menschen in diesem Nest mag. Und Sie wissen genau, dass es davon nicht allzu viele gibt. Aber das gibt auch Ihnen kein Recht, mich wie irgendeinen Störenfried zu betrachten, der Ihnen die Geschäfte vermiesen will. Ihre schönen feinen Geschäfte mit la familia oder ohne. Das ist mir egal. Genauso wie mir ihre kleinen abendlichen Gespräche egal sind und ihre seltsame Freundschaft mit unserem Bürgermeister, der seit 100 Jahren nicht gelächelt hat, weil dieser kleine Tropf glaubt, die Leute würden ihn ernst nehmen, wenn er nicht lächelt. Ist mir alles egal, alle Ihre schönen Partys mit den Herren aus dem Club der Unbescholtenen …“

„Aber Signor L.!“

„Nichts da, Signor L. Ich sitze unterm Schreibtisch. Ihre Jungs können also problemlos auf die Fenster ballern. Bezahlt alles die Versicherung und mein Chef hat einen guten Grund, mich in die Pusta zu schicken, weil ich so langsam zum Geschäftsrisiko werde. Was er Ihnen ja beim letzten Treffen unserer städtischen Alligatoren bestimmt schon erzählt hat. Wobei: Es ist schwierig, ihn  zum Sprechen zu bringen, das wissen sie ja …!

„Aber Signore!“

„Hab ich etwas falsch verstanden? Rufen Sie lieber erst an und schicken dann die Cousins mit den blauen Bohnen …“

„Sie haben mich völlig missverstanden, scusi! Das hätte mir nicht passieren dürfen, beruhigen Sie sich doch, lieber Herr L. Ich bin der letzte in dieser Stadt, der Ihnen ein Haar krümmen würde, glauben Sie mir!“

„Also keine blauen Bohnen?“

„Bei mir? Niemals! Ich bin ein friedlicher Mensch. Vielleicht sehe ich manchmal nicht so aus, kann sein. Auch ich muss meine Rolle spielen. Wir sind alle nur actori, kleine Sängerknaben. Und auf kleine Sängerknaben hört niemand und nimmt auch keiner Acht, aber das wissen Sie ja.“

Die Stimme klang tatsächlich wie frisch gepresstes Olivenöl. Rann voller Zärtlichkeit durch L.s Ohrwindungen. Aber wenn er ehrlich zu sich war, fühlte er sich unterm Schreibtisch gerade ganz wohl, auch wenn ihm so ein vages Gefühl sagte, dass man auch Don Leones Zärtlichkeiten nicht trauen sollte. Zumindest nicht, wenn er wusste, wo man arbeitete und wohnte. Und das war in diesem Nest voller lebensmüder Hunde leicht herauszubekommen. Wie oft mochte ihm ein neugieriger Cousin hinterhergefahren sein? Und wer sonst nicht?

Er hatte genug Hühner aufgeschreckt in den paar Tagen. Nun also auch noch den liebenswertesten Neapolitaner der Stadt.

„ … lade ich Sie zu einer Gondelfahrt ein …“

„Wie bitte?“

„Ja, verspreche ich hoch und heilig. Wenn Sie mal nach Venezia kommen, lade ich Sie zu einer Gondelfahrt ein. Mit allem Drum und Dran. Mein Bruder wird Ihnen gefallen. Der liebt solche Burschen wie Sie …“

„Was bin ich den für ein Bursche? Ich könnte mir in Venedig nicht mal ein Schnitzel leisten …“

„Schnitzel. Sie sind gut. Sie werden kein Schnitzel bekommen. Bin ich denn ein Münchner Hofbräu? Bei mir erleben Sie nur feinste italienische Küche. Bisschen Venezia, bisschen Roma, viel Napoli .. . und Sie haben neapolitanische Küche bei mir schon kennengelernt.“

Hatte er. Lang genug war’s her. Eine ganze Brigade emsiger Cousins hatte ihn bedient, während ihm Don Leone ausführlichst erzählte, was einen armen, aber tüchtigen kleinen Küchenjungen aus bella italia in ein Städtchen wie L. trieb, um dort binnen weniger Jahre 17 Häuser zu kaufen, fünf Restaurants und einen Pizza-Lieferdienst aufzumachen.

„Wie geht das?“, hatte L. dummerweise gefragt. Und Don Leone natürlich herausgefordert zu erzählen, was in bella italia la familia alles tat, um ihren nahen und fernen Vettern im fernen kalten Germania zu helfen, erfolgreich auf die Füße zu kommen und italienische Kultur zu verbreiten. „Und, hab ich Kultur gebracht nach L.?“

Natürlich: die zwei Eiscafes hatte L. noch vergessen.

Aber die Bilder von la familia im Kopf waren geblieben.

Und selten verirrte er sich in eines der stets feierlich erhellten Ristorantes. Auch wenn es die Besserbetuchteren längst zur Zeremonie gemacht hatten. Man traf sich bei Don Leone. Und augenscheinlich genoss man diese Atmosphäre des Leicht-Hintergründingen. Hatte Don Leone oder hat er nicht? Und mit wem hatte er eigentlich so gut florierende Geschäftsbeziehungen, dass selbst Besuche der Steuerfahnder und der Hygiene so reibungslos abliefen, als wären Don Leones Küchen frisch renovierte Musterküchen mit säuberlichstem Musterpersonal? Während vertraute Kneipen gleich zwei, drei Ecken weiter aus viel banaleren Gründen schließen mussten.

Seine Geschäfte florierten. Und gestern Nacht war ihm L. ganz unübersehbar zu nah gekommen. Wenn auch unbeabsichtigt. Er hatte die Route durch die Nacht nicht dirigiert. Was also hätte er Don Leone sagen können? Dass er etwa mutmaßte, was er schon damals nicht belegen konnte. „Meine Weste ist weiß, caro mio. Da können Sie fragen, wen sie wollen …“

„Auch den Bürgermeister?“

„Bravissimo! Auch den.“

So standen die Dinge nun seit ein paar Jahren. L. hatte aufgehört, nach den Lebensgeschichten der Berühmten und Glücklichen zu fragen. Und seine Besuche in bella italia um die Ecke hatte er auf die unverzichtbaren Espressi beschränkt. Ohne die er an manchen Tagen wirklich nicht ins Gleichgewicht kam.

„Ich weiß, dass ich Sie nicht bestechen kann, mein Lieber“, säuselte es im Telefonhörer. Und dann, fast hauchend: „Aber genau deshalb liiiiiiiiiiebe ich Sie!“

Noch ein Moment mit leichter Gänsehaut? Einatmen, auspusten.

„War jetzt ein Scherz, mein Lieber. Sie müssen vor mir keine Angst haben.“

Hatte er tatsächlich das Wörtchen „mir“ betont? Es war wohl doch so, dass L. Don Leone besser kannte, als ihm lieb war.

„Sie laden mich also auf einen richtig schönen Espresso ein?“

„Natürlich, mein Lieber. Nichts anderes war mein Begehr. Ich wollte Sie wirklich nicht erschrecken, caro mio. So etwas tu ich nicht. Glauben Sie mir. Kommen Sie vorbei. Vielleicht gleich, vielleicht etwas später“, sang Don Leone beinah ins Telefon, hielt kurz inne, als stutze er. Und dann etwas leiser: „Aber nicht zu spät.“

Kleine Pause.

War das jetzt ein Ultimatum?

„Sie verstehen schon: Wegen meiner Gäste. Wenn die ganzen schönen Menschen von L. in mein Ristorante strömen, dann bin ich ein hoch beschäftigter Mann. Dann muss ich zelebrieren. Das ist mein Geschäft. Aber das wissen Sie ja.“

„Also doch gleich …“

„Ich hole Sie ab …“

Knacken im Hörer. Schnaufen unterm Schreibtisch. Wenn er jetzt nicht so fürchterlich schwitzen würde, hätte sich Herr L. beinahe einreden können, dass dieser Morgen doch ganz nett begonnen hatte. Und dass er jetzt doch lieber in Venedig gewesen wäre. Oder Chicago. Beides nette Städtchen, die den unausweichlichen Vorzug hatten, dass ihn dort niemand kannte. Nicht mal der stille Kollege, der ihn nun schon ein paar Minuten gesucht hatte und nun doch etwas verdattert unter den Tisch schaute.

„Gibt’s dafür einen Grund, den ich nicht kenne?“

„War nur ein Anruf von Don Leone. Passiert mir jedes Mal. Kann ich nicht ändern“, sagte L., als er sich möglichst elegant aus der Tiefe wühlte.

„Na dann, gute Nacht. Was möchtest du gern auf der Schleife stehen haben? So was wie ‚Er war ein tapferer Kerl?‘ Oder eher: ‚Am Schluss war er leider zu mutig!‘? Kannste mir ruhig sagen. Dann geb’ ich die Schleife und den Kranz schon mal in Auftrag. Kommt ja nicht alle Tage vor, dass Kollegen einen filmreifen Abgang machen …“

„Ich dachte eher …“

„Ach, vergiss es“, sagte Kollege Stachelschwein. „Ich bin jetzt sowieso zum Beobachtungsobjekt geworden. Wenn ich nächste Woche noch da bin, hab ich eine Galgenfrist. Ich werde jetzt Morgenstern lesen, während du dich vergnügst. Hast ja jetzt neue Freunde …“

Den Humor kannte L. eigentlich schon. Aber heute hatte er das verflixte Gefühl, dass man vielleicht doch lieber noch einmal in den „Galgenliedern“ schmökerte, bevor es zu spät war und ein Luxusschlitten vors Zeitungsgebäude fuhr mit vier sonnenbegrillten Herren im Schwarz darin. Natürlich mit quietschenden Reifen.

Doch so aufmerksam er auch lauschte.

Es war erstaunlich still.

Die ganze Geschichte „Und was passiert jetzt?“

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