Leipzigs Gottschedstraße 16 wird im Stadtrat behandelt. Gibt es weiterhin eine Option auf Öffentlichkeit, Theater, Filmkunst und Literatur oder aber verkauft die Stadt kurzerhand eine Immobilie? Und damit eine alte Leipziger Theateradresse. Ob Kammerspiele, Neue Szene, Scala, Festival euro-scene Leipzig oder auch nur Kneipe, es ist ein Publikums-Mehrgenerationentheater, und das seit Mitte des vorigen Jahrhunderts. Hier haben Generationen von Leipzigern, und das sind alle, die jeweils gerade da sind, gerne unterhaltsam-lehrreiche Kunst-Zeiten und Lebenskunst-Stunden verbracht. Klassisch, lustig, ungewöhnlich, aufmüpfig, angeheitert.

Man nehme ein paar Bände Theatergeschichte aus dem nächsten Bücherschrank und erinnere sich an dies und jenes…

Graue Straße und Walter Ulbrichts Geburtshaus

Als Kneipenmeile ist die Gottschedstraße seit gut 20 Jahren eine Leipziger Attraktion, zu DDR-Zeiten war es eine Straße Grau-in-Grau wie so ziemlich alle anderen alten Häuserquartiere auch. Doch wo Türen zu Theatern sind, strahlt das aus, auch wenn gerade keine Vorstellung naht, läuft oder geendet hat… Dabei ist in Leipzigs Gottschedstraße 16 das Theater versteckt in einem Wohn- bzw. Bürohaus mit Gastronomie im Erdgeschoss. Kein Platz für große Werbebanner und Plakate.

Theaterreformator Johann Christoph Gottsched gab der Straße seinen Namen, die seltsamerweise nicht in Walter-Ulbricht-Straße umbenannt wurde, der 1893 hier geboren wurde. Von Schauspielviertel und Kneipenmeile Drallewatsch war da noch lange nicht die Rede.

Schon am 19. Dezember 1945 wurde in einem Theater mit der Bezeichnung „Neues Schauspielhaus“ in der Gottschedstraße Shakespeares „Sommernachtstraum“ aufgeführt, berichtet A. M. Uhlamm 1956 im Buch „Leipziger Bühnen“,. 1948 Eröffnung der Kammerspiele in der Gottschedstraße, vermerkt eine Theater-Chronik. 1950/51 wurden die Städtischen Bühnen zusammengeschlossen und eine Generalintendanz gegründet, Max Burghardt war der erste Generalintendant. Ihm folgte1954/55 Johannes Arpe. Auf Szenenfotos von damals ist ein junger Schauspieler namens Karl Kayser zu sehen, der das Generalintendantenamt später lange begleiten wird.

Man wird ihm vieles nachsagen, aber auch dass er sich dafür einsetze, dass Jugendliche ohne Altersbeschränkung nur in Begleitung von Erwachsenen ins Theater gehen dürfen. Auf einer O-Ton-CD einer der letzten SED-Zentralkomitee-Sitzungen sind seine Stimme und sein Zorn auf die Partei- und Staatsführung noch zu hören.

Erinnerungen, Chroniken

Ältere Leipziger berichteten von einem kleinen Saal mit Rang, wenig Platz hinter der Bühne. Und dann leuchteten die Augen der einstigen Zuschauer bei Stücktiteln wie „Ehe eine Ehe eine Ehe wird“ und „Himmelbett“. Programmhefte und Leipziger Theater-Nachrichten werden heute reihenweise antiquarisch bei ZVAB angeboten, aufgelistet wie große dicke Bücher, Stückpreise von zehn und mehr Euro.

Aus dem Spielplan: In „Am Ende der Nacht“ haben 1957 u. a. Ingeborg Krabbe, Marylu Poolman und Ingeborg Krabbe gespielt, in Gerhart Hauptmanns „Ratten“ war Käte Koch dabei, Johannes Curth inszenierte Henrik Ibsens „Wildente“ u. a- mit Gisela Morgen und Joachim Tomascheswky. Ferdinand May und Dr. Dietrich Wolf waren die Dramaturgen, Nikolai Gogols „Revisor“ stand 1963/64 auf dem Spielplan, Siegfried Tiefensee hat Musik komponiert, Ivan Malré, Mary Poolman und der spätere Regisseur Peter Röll zählten zu den Darstellern. 1958/59 hat Harald Halgardt Goethes Torquato Tasso gespielt…

Rudi Strahls „In Sachen Adam und Eva“ wurde hier 1969/70 verhandelt, eine Komödie die laut Aussage des Autors alle DDR-Theater gespielt worden sein soll, in Leipzigs Kammerspielen inszeniert von Peter Förster u. a. mit Barbara Trommer, Dieter Bellmann, Wolfgang Jakob, Ivan Malré, Erich Giesa.

Kammerspiel im Weißen Saal

Als das Haus in den 1970-er Jahren baufällig wurde, liefen einige Stücke als Gastspiel im Weißen Saal der Kongresshalle am Zoo mit über 500 Plätzen, in dem sonst das Theater der Jungen Welt spielte. Die Bezeichnung Kammerspiele blieb auf diese Weise erhalten, auch an einer Leuchtreklame der Leipziger Theater am sogenannten Halleschen Tor zwischen Richard-Wagner-Straße und Brühl.

Bilanzanteile für ein Theater

1984 kommt es zum in der DDR seltenen Ereignis einer Theater-Eröffnung! Eine sogenannte kleine Spielstätte mit dem Namen „Neue Szene“. Und das in einer Zeit, in der es in der DDR-Volkswirtschaft an allem nur möglichen Bau- und Installationsmaterial mangelte. Kein Brett lag herrenlos irgendwo herum, Werkzeuge die nicht bewacht wurden, fanden sofort neue Besitzer. In der Wirtschaft wurde Baumaterial nach Bilanzanteilen verkauft, soweit es reichte. Es sei denn, es handelte sich um Prestigebauten wie das Neue Gewandhaus. Oder Bauvorhaben nach den Paragraphen einer gesetzlichen Lieferverordnung. Für die Landesverteidigung ging alles! Wie später alle erfahren konnten, gehörte auch der devisenbeschaffende Staatssicherheits-Bereich Kommerzielle Koordinierung dazu.

Che Guevara in der Gottschedstraße

Am Eröffnungstag am 16. Januar war auch Premiere. „Guevara oder Der Sonnenstaat“ von Volker Braun kam als DDR-Erstaufführung heraus. Es ist ein gewagtes, vermutlich auch politisch umstrittenes Unterfangen, nach dem sechs Jahre zuvor die Premiere am Berliner Deutschen Theater verboten worden war. Mit den Parabeln Volker Brauns hatte Leipzigs Schauspielhaus schon seit dem „Großen Frieden“ Erfahrung, der von einer Revolution in China vor über 2000 Jahren erzählte, und die DDR meinte. Seine „Kipper“ kamen in den 1970-er Jahren heraus, die „Schmitten“ erlebte erst zehn Jahre nach dem Schreiben ihre Uraufführung im Kellertheater. Sozialistischer Realismus auf dem Theater, wie auch immer gefordert, gewünscht, gemeint oder geliefert, brauchte seine Zeit.

„Guevara“ inszenierte der Generalintendanten-Sohn Karl Georg Kayser. In den letzten Tagen auf der Baustelle war die Zeit knapp, die Proben liefen, an die Technik-Galerie wurden erstmals Scheinwerfer montiert. Der Regisseur und sein Bühnenbildner Lothar Scharsich wollten Scheinwerfer einrichten und Lichtstimmungen festlegen, da lag der schwarze Stoff für Aushang um die Spielfläche noch auf dem Boden. Also fädelten alle verfügbaren Techniker und Statisten stundenlang in die Ösen Schlüsselringe und Anhänger mit Rädern für die Vorhangschienen. Dann ging die südamerikanische Revolution, bzw. ihre Beleuchtungsprobe, los! Und das Stück stand sehr lange auf dem Spielplan.

Keine Ausstellung für Sieghard Liebe

Zeitreise in die Gottschedstraße. Foto: Karsten Pietsch
Zeitreise in die Gottschedstraße. Foto: Karsten Pietsch

In der Gottschedstraße 16 eröffnete an Stelle der Kammerspiele die Neue Szene mit gut 100 Sitzplätzen, und sie sieht ganz anders aus als früher, was alte Leipziger Theaterfüchse bedauerten, sich aber daran gewöhnten. Generalintendant Karl Kayser, Mitglied des Zentralkomitees der SED, verhinderte aber auch eine Ausstellung von Umwelt-Fotos des Leipziger Fotografen und HGB-Fotografie-Experten Sieghard Liebe: „Diese Bilder werden hier nicht aufgehängt und werden hier nicht hängen“, zitierte Sieghard Liebe die damalige persönliche Begegnung beim schon begonnenen Aufbau der Ausstellung.

Tadeusz Rozewiczs „Er ging aus dem Haus“ im Kellertheater folgte 1987 in der Neuen Szene “Die alte Frau brütet” als  DDR-Erstaufführung von Rozewicz’ “Die alte Frau brütet”.  Im Internet unter Leipzig.de finden sich 2015 Porträts historischer Leipziger  Frauenpersönlichkeiten, bei der Schauspielerin Marylu Poolman heißt es „faszinierte sie durch sensible, zurückhaltende, verinnerlichte Reaktionen“.

Von der Sowjetunion lernen

Zeitgenössische sowjetische Stücke ziehen im Schauspielhaus Besucherscharen an, und der Generalintendant inszeniert in der Neuen Szene ein Drama unter alten Funktionären mit dem metaphorischen Titel „Aufstieg auf den Fudschijama“. Christoph Heins „Ritter der Tafelrunde“ lässt die Ritter alt aussehen. Und Volker Brauns „Übergangsgesellschaft“ wurde dann von den übergehenden, übergangenen und übersprungenen Entwicklungsphasen überholt.

Bei jeder dieser Inszenierungen sah das Theater anders aus, waren Bühnenraum und Zuschauerpodeste anders angeordnet. Stück- und Bühnenbildwechsel müssen ungleich mehr Aufwand und Arbeit gewesen sein, als sich Theaterbesucher unter Kulissenschieben vorstellen.

Neue Szene Tanztheater

Anfang der 1990er Jahre löste sich das Leipziger Theater-Kombinat auf. Wolfgang Hauswald als neuer Intendant, vorher langjähriger Dramaturg, der hier auch Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ einstudiert hat, führte die Neue Szene einfach weiter. Auch der neue Schauspieldirektor Horst Ruprecht inszenierte hier, der Leipzigs Schauspiel zu einem „großen komödiantischen Volkstheater“ machen wollte.

Mit Peter Turrinis „Rozznjogd“ und Mark Galesniks „Besessener“ entwickelte Konstanze Lauterbach ihre Dramatik-Sichtweise; explosiv, punktuell, super-schnell, von Einfällen geladen, Bilderfluten für Besucher – so erklärlich oder unerklärlich auch immer, jedenfalls so, dass sie im Kopf blieben. Und in jedem Fall action für die Schauspieler! In der Neuen Szene bekam Konstanze Lauterbach auch die Friederike-Caroline-Neuber-Medaille der Stadt Leipzig.

Jean Genets „Zofen“ zogen in der Einstudierung durch Pierre Walter Politz Zuschauerscharen in den Bann, nicht nur weil die Zofen mit Männern besetzt waren.

Wolfgang Hauswald erfand das Tanztheater des Schauspiels und wusste, dass dafür die richtigen Leute schon da waren. Irina Pauls und klassisch wie auch modern ausgebildete und langjährig erprobte Tänzer bekamen ihr eigenes Ensemble, vergleichbar der berühmten niederländischen Truppe. Irina Pauls hatte dafür, für den Raum und auch größere Bühnen die richtigen Ideen, das Publikum strömte. Es ging mit einer heiteren „Schwanensee“-Persiflage los, in der Werner Stiefel mittanzte, vormals Ballettsolist im Opernhaus. Später wird er Abenddienstleiter der Neuen Szene, alle Zuschauer kannten ihn, noch immer wacht er im Schauspielhaus über Ordnung im Vorderhaus. Irina Pauls ließ unter vielen anderen Einfällen mit und in Koffern tanzen und mit dem Gabelstapler ein Bühnenbild aus Europaletten umstapeln.

Dieses Tanztheater aus Kostengründen geschlossen zu haben, wird Leipziger Theaterverantwortlichen genauso anhängen wie die Auflösung der Ballettschule der Oper Leipzig.

Waren die Bühnenbodenbretter erst natürlich hell, wurden sie später geschwärzt. Im Foyer wurde gespielt und gelesen, Schauspieler entdeckten ihren Spaß an Ernst Jandl. Dann wurde umgebaut und Platz für eine größere Kneipe geschaffen, wobei die Schaufenster wieder zu Fenstern hinaus auf die Gottschedstraße wurden.

Neues in guter Tradition

Intendant Wolfgang Engel zauberte in der Neuen Szene mit Georg Kaisers „Von morgens bis mitternachts“ das Theater einer großen Bühne und ließ die „Rocky Horror Show“ unter ähnlich beengten Platzbedingungen spielen, wie es einst bei der Uraufführung zugegangen sein soll. Die singenden Schauspieler hatten ihren großen Abend und das Publikum etliche Dutzend Vorstellungen!

Für Heiner Müllers „Quartett“ wurde der Bühnenboden unter Wasser gesetzt. Bei Zuschauergesprächen verblüffte das Publikum die Theaterleute mit Fragen nicht etwa nach Müllers Stoff und Text, sondern nach der dunklen Farbe des Wassers und der Haltbarkeit der Kostüme.

Seit Gründung des Festivals euro-scene Leipzig gehörte die Spielstätte einfach dazu, offerierte wieder neue Raumanordnungen und wurde für ein musikalisches Familientheater sogar zur Parklandschaft. Bis der nächste Intendant kein internationales Festival mehr in seinem Haus haben wollte…

Hartmanns Theater

Oberbürgermeister Burkhard Jung holte Sebastian Hartmann als Intendanten nach Leipzig, der machte aus dem Haus die „Scala“ und richtete sie zunächst als Experimentierfeld mit eigenem Ensemble ein; eine ambitionierte Idee, in einer Umgebung, in der sich das Publikum fortwährend selbst auf dem Experimentierfeld befindet. Wer sucht da das Abenteuer im stück- und autorenlosen Theaterabend?

Über den Bauzustand wurde hinweggesehen. Wer fragte auch nach, wenn er die Räume der hier zeitweise untergebrachten Bereiche des Theaters der Jungen Welt sah, oder das Hinterhaus-Treppenhaus mit altehrwürdigen Farbanstrichresten hinauf zu den Büros der euro-scene Leipzig.

Enrico Lübbe als neuer Intendant verkündete bei seiner ersten Pressekonferenz, dass es für die Scala keine Betriebsgenehmigung mehr gäbe, zu vieles sei dort baufällig. Da gab es schon andere Interessenten für eine kulturelle Nutzung, neue Raumstrukturen für ein Filmkunst-Kino. Zur Geschichte des Hauses würde das passen!

Kleine Formen für großes Theater

Ein anderer Erinnerungsort: Das Kellertheater – eröffnet 1969 – hat seine Kellertreppentür längst verschlossen, angeblich weil noch Techniker eingespart werden mussten. Seit 1994 schon spielte das Schauspiel nicht mehr da unten. Nur gelegentlich gab es andere Veranstaltungen.

Doch diese Räume hatten eine Aura, unfeierlich aber heimelig. Schon der Weg hinunter, vorbei an extra bühnenbildmäßig aufgemauerten Ziegeln unter alten Straßenlaternen hindurch, der Spielraum als Sackgasse hinter drei normalen Türen, durch die Publikum und Spieler hindurch mussten, statt Bühne ein Quadrat markiert durch Säulen. Lange Zeit Korbstühle, wie sie 1969 Mode gewesen sein müssen, so wie die Lampenschirme im Foyer Papierkörben glichen in den Nischen gebaut aus allen findbaren Hohl- und Glassteinen. Eintrittspreis einheitlich fünf Mark der DDR. Hier unten spielten Albert Wendts „Dachdecker“, hier wurde „der Südpol erobert“, trafen sich Bach und Händel, litt Goya, dauerten nach Volker Brauns Lesungen Diskussionen länger als sonst die Theaterstücke.

Das Konzertfoyer im Opernhaus und das Gohliser Schlösschen waren einst ständige und beliebte Spielstätten, was heute immer wieder wechselnde Theaterleitungen nicht wissen oder sich nicht von Mitarbeitern des Hauses erzählen lassen.

Wer verkauft was?

Und nun soll für 4,6 Millionen Euro die ehemalige Schauhaus-Disco umgebaut werden. Ein Argument „Dafür“ soll heißen, man könne ja das Grundstück Gottschedstraße 16 verkaufen. Wer verkauft hier was? Am 25. Februar kann der Stadtrat entscheiden, ob er s i c h hier verkauft.

Aufruf: Leipziger Theaterfreunde sind herzlich zur Ergänzung und Aktualisierung dieses Textes eingeladen!

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