Wo hängt es? Wo klemmt es in einer Stadt wie Leipzig? Das wollten die Stadtväter auch schon vor 150 Jahren wissen. Damals wurde – auf Anregung der Stadtverordneten – die Anstellung eines Aktuars und eines Expedienten für ein erstes kleines statistisches Büro beschlossen. Ja nicht zu viel und ja nicht zu teuer. Das klang schon irgendwie wie die Stadtverwaltung von heute.

Richtig los ging die Arbeit in dem kleinen „historischen Archiv“ aber erst am 1. Mai 1867, als mit Georg Friedrich Knapp (1842 – 1826) der erste Leipziger Stadtarchivar seine Arbeit aufnahm – mitten im Brennpunkt des politischen Interesses. Dr. Annett Müller, Bestandreferentin im Stadtarchiv Leipzig, berichtet im neuen Quartalsbericht Nr. II / 2016 über diese Gründungsphase des späteren Leipziger Amtes für Statistik und Wahlen.

Sie zitiert zwar die „Anregung“ aus der Stadtverordnetenversammlung. Aber tatsächlich war es eine Forderung. Denn die gewählten Vertreter der Stadtbevölkerung wussten sehr wohl, dass Wissen Macht ist und man eine Verwaltungsspitze nicht kontrollieren kann, wenn man keine Daten hat. Und die Verwaltungsspitze – der OBM und seine Stadträte – waren ebenfalls darauf bedacht, ihren Wissensvorsprung zu wahren und gleichzeitig auch noch zu sparen. Deswegen gab es in den Folgejahren immer ein zähes Ringen um die Besetzung des Büros oder gar seine Ausweitung.

Es war übrigens eine mehrfach rumorende Zeit. Im selben Jahr – 1866 – hatten die Preußen Leipzig besetzt. Das ist heute fast völlig aus der Erinnerung der Stadt verschwunden. Bis 1866 gehörte Sachsen zu den Gegnern Preußens, war das Königreich Verbündeter Österreichs, auch als es 1866 zur Entscheidungsschlacht bei Königgrätz kam. Die Preußen machten es übrigens genauso wie 110 Jahre zuvor unter Friedrich II.: Sie besetzten das militärisch schwächere Sachsen schon vor den entscheidenden Schlachten, um einerseits die Sachsen daran zu hindern, ihnen hier militärisch in die Quere zu kommen, andererseits Österreich einen Aufmarsch auf Berlin über Sachsen unmöglich zu machen.

Nach der Schlacht bei Königgrätz hatte Sachsen dann keine Wahl mehr, als sich dem Sieger anzuschließen und dann 1870 dabei zu sein, als der Angriff auf Frankreich gestartet wurde.

Diese kriegerische Reichseinigung auf die Bismarcksche Art überschattet in den Geschichtsbüchern dann zumeist auch, dass sich die großen deutschen Städte genau in dieser Zeit zu Industriezentren entwickelten und einem steigenden Modernisierungsdruck ausgesetzt waren. Auch Leipzig. Seit dem Beginn des Eisenbahnzeitalters hatte Leipzig seine Bevölkerungszahl auf über 90.000 verdoppelt, raste – im Dampflok-Tempo – auf die ersten 100.000 zu. Und das ging nicht nur Leipzig so. Um bei so einem rasenden Ausbau der Stadt noch die Übersicht zu bewahren, war eine ordentliche Statistik unabdingbar. Bremen hatte schon 1861 ein statistisches Büro eingerichtet, Berlin folgte 1862, Frankfurt 1865 und Hamburg 1866.

Mit dem Physiker, Chemiker, Mathematiker und Nationalökonomen Georg Friedrich Knapp hatte Leipzig einen richtig vielseitigen Wissenschaftler aus Dessau abgeworben. Bis 1874 hielt er die trockene Büroarbeit aus, dann wechselte er auf eine Professur für Nationalökonomie nach Straßburg.

Knapps Nachfolger wurde dann jener Ernst Friedrich Hasse, der dann auch noch eine Statistik-Professur an der Uni Leipzig innehatte. Das, was 1867 als ein Sammeln wichtiger Daten und Informationen zur städtischen Entwicklung begonnen hatte, war längst zu einer eigenständigen ökonomischen Wissenschaft herangereift. Oberbürgermeister, die die Zahlen und Kurven verstanden, konnten die Planung einer derart schnell wachsenden Stadt ziemlich genau und auch sehr weitreichend planen. Eine Kunst, die die damaligen Oberbürgermeister augenscheinlich schnell lernten, sonst hätten die Leipziger ihnen nicht so schnell und bereitwillig Denkmäler gesetzt oder gar ganze Ringabschnitte gewidmet. Zu Knapps Zeiten war es Karl Wilhelm Otto Koch, in dessen Amtszeit Leipzig die 125.000-Einwohner-Marke überschritt. Ihm folgte Otto Georgi, der in seinen über 20 Amtsjahren ein wirklich atemberaubendes Wachstum auf 450.000 erlebte – aber auch die ersten richtig großen Eingemeindungen (Reudnitz und Anger-Crottendorf 1886). Aber man ahnt schon, wie viel Statistik dahinter steckte, wenn damals die ersten großen Neubaugebiete geplant werden mussten (Südvorstadt) mit ausreichend breiten Magistralen (auch gern mit Reitweg in der Mitte), genügend Schulen, Kirchen, Grünanlagen. Aber auch die Versorgung mit Trinkwasser musste generalstabsmäßig geplant werden – der Beginn der Druckwasserversorgung liegt für Leipzig im Jahr 1865.

Ab da ging ohne eine ausführliche Statistik praktisch gar nichts mehr und aus dem Büro wurde im Lauf der Zeit ein personell deutlich aufgestocktes Amt, das freilich in der DDR-Zeit dann wieder ein sehr verstecktes Dasein führte, erst recht, als die einst regelmäßigen Statistischen Jahrbücher immer sporadischer und am Ende gar nicht mehr erschienen, weil die Daten zu viel über die heruntergewirtschaftete Wirtschaft der Stadt und ihre katastrophalen Umweltbedingungen verrieten. Seit 1913 waren diese Jahrbücher erschienen. 1971 gab es dann den Schnitt, tauchte die statistische Berichterstattung im Staate Honecker erst mal ab für 20 Jahre. 1991 erschien dann erstmals wieder ein dickes Jahrbuch für die Stadt Leipzig – und die Reihe ist bis heute nicht wieder abgerissen, auch wenn der Blick in die älteren Jahrgänge zeigt, wie schnell sich Daten in Geschichte verwandeln.

Und es passt natürlich zur historischen Erinnerung, wenn der Quartalsbericht auch eine Würdigung für den ersten Amtsleiter nach dem gesellschaftlichen Umbruch, Josef Fischer, bringt, der das Amt bis 2009 leitete. Am 25. Juni ist er gestorben, nicht ohne den Leipzigern 2014 noch ein ausführliches Buch über alle ab 1830 erfolgten Wahlen zu schreiben: „Wahlen, Wahlrecht und Gewählte in Leipzig“. Natürlich ganz trocken, wie man das von einem Statistiker erwarten darf. Den interessieren vor allem Daten und Fakten. Was die Politiker dann daraus machen – oder ob sie überhaupt was daraus machen – interessiert den Statistiker erst einmal gar nicht. Den Menschen in dessen Haut schon. Kann ja auch nicht anders sein. Denn für eine funktionierende Statistik braucht man nun einmal eine transparent arbeitende Demokratie.

Diktaturen, wie man weiß, neigen extrem zum Verschweigen, Vertuschen und Schönreden. Das Erwachen gibt es in der Regel erst, wenn hinterher die nackten Zahlen genannt werden, die vorher keiner wissen durfte.

In eigener Sache – Eine L-IZ.de für alle: Wir suchen „Freikäufer“

Eine L-IZ.de für alle: Wir suchen „Freikäufer“

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar