In den alten Zeitungsmeldungen des Reudnitzer Tageblattes finden sich heute in scheinbaren Kleinigkeiten Informationen, die, geht man etwas in die Tiefe, durchaus Einblick in die Zeit der beginnenden Industrialisierung Leipzigs geben können. So geht es dieses Mal um einen Finder einer Geldbörse, erfassten Straftaten im November 1885, die Anzahl der Todesfälle im Leipziger Osten binnen einer Woche und der journalistische Umgang mit Polizeimeldungen vor 130 Jahren. Vor allem aber ist es finster auf den Straßen, der Winter schlägt zu zum Jahresbeginn 1886. Und die Kinder im Viertel gehen einer beliebten Freizeitbeschäftigung in den Treppenhäusern nach.

Das ist wohl eine Geschichte, die im wahrsten Wortsinn auf der Straße liegt. „Volkmarsdorf: Einen sonderbaren Begriff von Ehrlichkeit hat ein Finder einer Geldbörse an den Tag gelegt. In der Ewaldstraße (heute Dornbergerstraße) fand man einen Zettel mit folgender Aufschrift: ‚In dieser Straße habe ich eine Geldbörse mit 2Mk. 30 Pf gefunden. Eigentlich müßte ich das in einer Zeitung bekannt machen, da das aber aussehen könnte, als wollte ich mit meiner Ehrlichkeit prahlen, so will ich das lieber unterlassen‘. Der Zettel war mit einem Steine beschwert, damit er nicht vom Winde fortgewirbelt werden konnte. Wenn der Finder mit seiner Ehrlichkeit nicht prahlen wollte, so konnte er den Fund ruhig auf der Polizeiwache abgeben, der Verlierer würde sich schon gefunden haben.“

Was aus dem enthaltenen Geld wurde, bleibt unbekannt, ist jedoch mindestens ahnbar. Apropos Mark, die hatten die Sachsen geschichtlich gesehen 1886 noch gar nicht so lange in ihren Geldbeuteln. In der Folge der Gründung des deutschen Kaiserreiches mit Verfassungsgebung am 16. April 1871 kam es in mehreren Schritten zur Währungsunion der einzelnen, heutigen Bundesländer und zur Zusammenführung der verschiedenen Währungen wie Kreuzer, Gulden und Taler.

Im Königreich Sachsen galten bis dato der Taler, „Neugroschen“ und Pfennige auf Basis von Silberprägungen. Für den „Außenhandel“ gab es noch Vereinsgoldmünzen (Dukaten), bis zur Einführung der einheitlichen, goldgedeckten Reichsmark am 1. Januar 1876. Selbst nach der Einführung der auch „Goldmark“ genannten neuen Währung blieben Taler bis 1907 im Wert von drei Mark im Umlauf.

Ein Monatseinkommen eines Arbeiters kann man anhand verfügbarer Einkommentabellen aus dem Jahr 1900 bei der damals durchaus stabilen Währung im Jahr 1886 etwa bei 50 bis 100 Mark im Monat festlegen. Quasi 10 Jahre nach der Einführung der Mark erbeutete der „ehrliche“ Finder mit 2 Mark und 30 Pfennigen im Leipziger Osten den Gegenwert von immerhin 9,6 Liter Bier oder rund 1,5 Kilogramm Schweinfleisch. Oder eben knapp 10 Kilogramm Roggenbrot.

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Der Tod in der damaligen Zeit und die mitschwingenden Klassifizierungen der Menschen in wenigen Worten: „In der letzten Woche starben in der Umgegend 80 Personen, davon 28 zwischen 0 und 10 Jahren. Unter den Verstorbenen befinden sich 7 Witwen, 17 Ehefrauen und 4 uneheliche Kinder.“ Bereits damals wurden männliche Tote also in der Presse nicht extra erwähnt, es hieß wie heute: „darunter Frauen und Kinder“, damals sogar noch „uneheliche“. Das die Zeiten so hoher Kindersterblichkeit in Leipzig vorbei sind, ist dennoch der wichtigere Teil der kurzen Meldung.

Droschke und Straßenbahn auf einem Bild vor dem Rathaus auf dem Markt von Leipzig vereint. (1914) 1886 begannen die ersten Erschließungen dazu auch auf der Eisnebahnstraße. Foto: Stadtarchiv Leipzig
Zum Vergrößern anklicken. Foto: Stadtarchiv Leipzig

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Die Polizei meldet sich via Reudnitzer Tageblatt zu Wort und hat frische Zahlen zu Übeltaten aus dem Vorjahr. Denn im Monat November 1885 sind im Polizeiamt Leipzig insgesamt 1.068 Personen verhaftet worden, nun wird darüber berichtet. Die Gründe dafür sind vielfältig, wie viele Straftaten unentdeckt blieben ist damals wie heute unbekannt: „Verübung groben Unfugs 210 Personen, Kontravention gegen das Droschkenregulativ 31, Überschreitung der Polizeistunde 52, Stellen von Blumentöpfen auf Fenstersimse ohne Schutzvorrichtungen 6, ungebührlichen Peitschenknallens 7, Verkaufs von Würstchen auf öffentlicher Straße nach 12 Uhr 1“.

Möge sich jeder selbst seinen Favoriten herauspicken. Interessant angesichts der hohen Einzelzahl sicher, was damals wohl als grober Unfug galt und dass die Polizei Zeit für die Überprüfung von Fenstersimsen hatte. Das „Droschkenregulativ“ jedenfalls sah unter anderem vor, dass jeder Fahrgast ohne Ansehens der Person zu befördern sei, wenn er eine Droschke „in Beschlag nehmen“ wollte. Doch die Straßenbahn hatte längst begonnen, ihren Siegeszug in Leipzig anzutreten, während sich am 14. September 1876 mit dem „Droschkenbesitzer-Verein zu Leipzig“ der Vorläufer der heutigen „Löwentaxi“-Genossenschaft gegründet hatte.

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Es ist ein harter Winter in Leipzig-Nordost und mal wieder gibt es Probleme mit dem wenigen Licht, welches wie in den Straßen weiter Teile Europas noch auf im Gasbetrieb funktioniert. „Unseren überhaupt nicht sehr zahlreich verteilten Laternen scheint die immer mehr zunehmende Kälte auch nicht zu passen; sie verspürten nicht wenig Lust zu streiken: 40 Stück froren ein; der Zeitpunkt ist umsomehr günstig gewählt, als auch der gute Monde sein Licht nicht leuchten läßt. Man sieht zwar bei Mondschein noch weniger, aber dann verliert man wenigstens die Richtung von einer Laterne zur anderen nicht. Hoffentlich wird, um ägyptischer Finsternis vorzubeugen, den Laternen gut zugeredet, damit ihnen das Streiken vergeht.“

Von einer erfolgreichen Zuredung findet sich in den vorhandenen Ausgaben des Ortsblattes zwar nichts, aber man darf hoffen, dass der Mond die Leipziger im kalten Winter nicht weiter im Stich gelassen hat. Denn auf die später verbesserte erste Kohlefadenlampe von Thomas Edison 1879 mussten die Leipziger länger warten, als die Berliner. 1882 entstand in der Hauptstadt die erste elektrische Straßenbeleuchtung, doch nur nach und nach wurden die schwachen Gaslampen im ganzen Kaiserreich ersetzt. Erst in den 1920er und 30er Jahren kam es zu einer Abdeckung von rund 20 Prozent elektrischen Laternen in Großstädten wie Leipzig.

1886 jedenfalls sahen die Schönefelder und Volkmarsdorfer bei strengem Winter auf der Straße offenkundig noch genau so schwarz, wie die Reudnitzer und Pariser.

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Werbung um die Jahrhundertwende. Auch das Reudnitzer Tageblatt lebte von Zeitungsinseraten und erschien kostenfrei. Foto: Stadtarchiv Leipzig
Werbung um die Jahrhundertwende. Auch das Reudnitzer Tageblatt lebte von Zeitungsinseraten und erschien kostenfrei. Foto: Stadtarchiv Leipzig, Leipziger Neueste Nachrichten

Ein Reudnitzer Unternehmer hat eine Winter-Idee, die im Viertel bereits den Vorgeschmack auf Sport und Alkohol findet. Doch er wird klassisch von der Verwaltung in Leipzig gestoppt.

„Der Restaurateur Weidlich wollte die Reudnitzer aufs Eis führen, resp. eine Eisbahn auf dem Fischerchen Plan am Täubchenweg mit Bierverschank einrichten. Der hiesige Gemeinderat gab zwar diesem spekulativen Unternehmen seine Zustimmung, auch die nötige Temperatur fehlte nicht, bloß das Wasser, das gefrieren sollte. Die Stadtväter Leipzigs wollten jedenfalls nicht, daß es den Reudnitzern so wohl werden sollte, daß sie aufs Eise gingen und verweigerten die Benutzung des Wasserpostens.“

Interessant hierbei wohl, dass deutlich wird, dass die zentrale Verwaltung in Leipzig längst über die einheitliche Wasserversorgung, beginnende Straßenbahnlinien und die Stromversorgung begonnen hatte, in die Ortsteile hineinregieren zu können. Drei Jahre später erst, also 1889 wird Reudnitz zusammen mit Anger-Crottendorf eingemeindet und gehört seither zu Leipzig. Schon 1890 folgen dann in einer regelrechten Eingemeindungswelle Neureudnitz, Thonberg, Neuschönefeld, Neustadt, Volkmarsdorf und Sellerhausen. Im Jahr darauf greift Leipzig nach Westen, also Plagwitz und Lindenau und im Süden nach Connewitz aus.

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Schon damals zum wohligen Erregen über die schlimmen Zeiten sicherlich beliebt, finden sich natürlich auch Polizeiberichte zu den Missetaten Anderer in den Zeitungen. „Wahrscheinlich noch an den Nachwehen des Silvesterrausches laborierend, infultierte ein Handarbeiter aus Anger-Crottendorf am Neujahrstage morgens die Kirchgänge in so unflätiger Weise, daß er den Beginn des neuen Jahres in beschaulichen Stillleben auf der Wache verbringen mußte.“

Wem das Wort „infultieren“ nichts sagt, es geschieht auch heute noch, wenn man einen über den Durst getrunken hat und den Mageninhalt nicht bei sich halten kann. Und schon damals nimmt so mancher Berichterstatter neben einer gewissen moralischen Zeigefingerattitüde polizeiliche Meldungen zum Anlass für fröhliches Spekulieren.

„Das 14-jährige Söhnchen hiesiger Eltern ist denselben mit einer größeren Geldsumme am 1.d. Monats durchgegangen; da das hoffnungsvolle Früchtchen stets einen romanhaften Hang zu Seereisen gehabt, hat er jedenfalls die Gelegenheit benutzend das Weite gesucht. Hoffentlich wird er nicht weit kommen.“ Wer weiß, ob das „Früchtchen“ letztlich nicht doch zur See gefahren ist?

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Die Zeit der medizinischen Wundermittelchen ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch lange nicht vorbei. Ein wahres Heilsversprechen jedenfalls gibt es im „Reudnitzer Tageblatt“ von einem Inserenten und dies natürlich per Vorkassenzahlung. Bedenkt man, dass bis heute bei jeder Medizin ein gewisser Placebo-Effekt zur Heilung beiträgt, ist die angepriesene, ziemlich breite Anwendbarkeit des Mittelchens erklärbar.

„Reinigt das Blut! M. Schütze’s Blutreinigungspulver, seit 1868 in ganz Deutschland bekannt, ist von einer Anzahl berühmter Aerzte, u.a. Oberarzt Dr. Groyen, Dr. Heilgreeve etc., als das beste blutreinigende Mittel erprobt und als vorzüglich wirkend empfohlen bei `Hautkrankheiten aller Art (Flechten, Geschwüre, Beinschäden), Kopfleiden, Hämorrhoiden, Rheumathismus, Gicht, Krämpfen, Husten, Nieren- und Blasenleiden, Scrophein etc.` Á Dose M. 1,50, Unter 2 Dosen werden nicht versandt. 5 Dosen portofrei nach allen Gegenden gegen vorheriger Einsendung des Betrags.“

Was dazu wohl Dr. med. Kohl gesagt hätte, der sich wie ebenfalls am 8. Januar 1886 vom Reudnitzer Tageblatt berichtet, seine schweren Blutvergiftung vom Leipziger Kollegen Dr. Tillmann behandeln lassen musste?

Reudnitzer Tageblatt, Ausgabe vom 13. Januar 1886

Kurz und trocken und vor allem damals noch eine Nachricht wert. Immerhin soll ein neuer Schlachter ins Viertel kommen und die Menschen essen beileibe noch nicht so viel Fleisch wie heutzutage. Doch es gilt, noch etwaige Einsprüche anderer abzuwarten, bevor das fröhliche Tiergemetzel in der Ludwigstraße (bis heute Parallelstraße zur Eisenbahnstr.) beginnen kann.

„Bekanntmachung. Herr Bruno Emil Schwarze in Neustadt beabsichtigt in dem unter Nr 176 des Flurbuches für genannten Ort eingezeichneten, an der Ludwigstraße gelegenen Grundstück eine Schweineschlächterei einzurichten. In Gemäßheit §17 der Reichsgewerbeverordnung wird dies mit der Aufforderung hierdurch bekannt gemacht, etwaige Einwendungen hiergegen, soweit sie nicht auf Privatrechtstiteln beruhen, bei deren Verluste binnen 14 Tagen, zum Erscheinen dieser Bekanntmachung an gerechnet allhier anzubringen. Leipzig, den 7. Januar 1886, kgl. Amtshauptmannschaft, Dr. Platzmann“

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Mal wieder die Kinder, mal wieder Radau im Viertel, mal wieder ein Artikel für sich. Der Unterton des Berichterstatters bleibt gewohnt belehrend in Richtung Eltern gewandt.

„Volkmarsdorf. Das Hinabgleiten der Kinder auf dem Treppengeländer ist eine weit verbreitete Unsitte. Vorigen Sonnabend Nachmittag glitten in der Schulstraße in einem Hinterhause auch mehrere Knaben um die Wette die Treppengeländer hinab, plötzlich bekam einer das Übergewicht und stürzte auf die Hausflur hinab, wobei er sich am Kopfe verletzte. Eltern mögen sich diesen Fall zur Warnung dienen lassen.“

Es hat wohl nichts gefruchtet – auch Generationen danach ist noch so mancher das Treppengeländer hinabgerutscht.

Das Reudnitzer Tageblatt – Kurzinfo

Heinrich Julius Mäser (* 1. Juni 1848 in Dresden; † 24. Januar 1918 in Leipzig) war ein deutscher Buchdrucker und seit spätestens 1880 gemeinsam mit dem Leipziger Richard Härtel Herausgeber des „Reudnitzer Tageblattes“.

Nach Wanderjahren, welche ihn nach Chemnitz, Stuttgart, Köln, Hagen und anschließend in die steirischen Hauptstadt Graz geführt hatten, wurde er am 1. April 1875 nach Leipzig gerufen und dort als Geschäftsführer der Produktivgenossenschaft Deutscher Buchdrucker eingesetzt. (Quelle Wiki). Gemeinsam mit seinem langjährigen Freund Richard Härtel (1835–1903), welcher immerhin der damalige Vorsitzende des Verbandes der Deutschen Buchdrucker war, gab Mäser das „Reudnitzer Tageblatt“ heraus. Im angehenden 20. Jahrhundert benannte sich die Zeitung in „Vorstadt-Zeitung” um.

Die Druckerei und das Technikum des „Reudnitzer Tageblattes“ befanden sich unter der Hausnummer 13–17 in der Senefelder Straße, einer Seitenstraße, die von der heutigen Dresdner Straße abgeht.

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