LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug aus Ausgabe 38Die große Eingemeindungswelle rollt. 1891 ist das Jahr, wo Leipzig nach Westen ausgreift, also Plagwitz, Schleußig und Lindenau eingemeindet. Kurz zuvor oder zeitgleich sind auch die Landgemeinden Neureudnitz, Thonberg, Volkmarsdorf, Neuschönefeld, Neustadt, Sellerhausen, Eutritzsch, Gohlis, Connewitz und Lößnig Teil Leipzigs geworden. Die Einwohnerzahl der Stadt steigt damit um 174.723 auf nunmehr 353.272 Einwohner, das Stadtgebiet Leipzigs verdoppelt sich praktisch über Nacht. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte schwingt sich die Stadt zur größten Metropole in Mitteldeutschland auf.

Leipzig wächst in dieser Zeit rasant, ging man noch kurz zuvor durch Leipziger Vororte, die meist nur mit einer Brücke mit der großen Stadt verbunden waren, müssen nun zunehmend mehr Verkehrswege erschlossen werden. Diese führen vor allem von den Vororten durch den heutigen Clara-Zetkin-Park und das Bachviertel. Besonders Lindenau war bis dahin enorm gewachsen, brauchte unter anderem eine neue Kirche und hatte Anleihen in Höhe von 606.000 Mark aufgenommen. Die Gründerzeit schreitet fast nahtlos in die industrielle Revolution voran, in Leipzig verzahnt sich eine Stadt nahezu komplett neu.

Und formuliert erstmals Ansprüche Richtung Dresden, wenn es um die politische Kraft in der Landespolitik geht. Wer die aktuelle politische Lage heute genau beobachtet, wird hier einiges wiedererkennen.

Seit dem 1. Januar 1891 sind die westlichen Vororte also Bestandteil eines wirklich neuen Leipzigs. In der Zeitung liest man dennoch nicht viel von einschneidenden Veränderungen. Auffällig ist jedoch, dass der Fokus der früheren Vorstadtbewohner deutlicher auf der restlichen Stadt liegt als zuvor. Die „heimatlichen“ Stadtteile werden nicht mehr so detailliert beleuchtet wie zuvor – man ist nun gemeinsam eine Großstadt und aus Plagwitzern werden Leipziger. Dennoch hat sich für die eingemeindeten Bewohner auch ein bisschen was geändert: Bürgerliche Angelegenheiten werde nicht mehr im Ortsrathaus, sondern „in der Stadt“ geklärt, die Feuerwehren und die Armenfürsorge müssen sich nun der Leipziger Verwaltung unterstellen. Und auch die Steuereintreibung wird nicht mehr einzeln in den Orten verantwortet, wie noch in der Zeitreise ins Jahr 1886 beschrieben.

Der Weg zwischen Stadtkern und Westen - um 1900 noch der König-Albert-Park, eine etwa 30 Hektar große Grünanlage in Leipzig. Er ist inzwischen ein Teil des Clara-Zetkin-Parks. Bild: Stadtarchiv Leipzig
Der Weg zwischen Stadtkern und Westen – um 1900 noch der König-Albert-Park, eine etwa 30 Hektar große Grünanlage in Leipzig. Er ist inzwischen ein Teil des Clara-Zetkin-Parks. Bild: Stadtarchiv Leipzig

Kaum dabei im Konzert der Neuleipziger, machen sich die Schleußiger lautstark bemerkbar – sie beschweren sich gleich zu Beginn des Jahres. Der Weg von der Stadt nach Schleußig über die Mahlmannstraße sei immer noch nur sehr spärlich beleuchtet, man tappt weitgehend im Dunkeln. Die Stadt verweist dagegen darauf, dass es sich hier nun um „einen einfachen ‚Kommunikationswege‘ handele“, der nicht besonders illuminiert werden müsse. Gleichzeitig teilt die Stadt aber mit, dass Schleußig zukünftig Gasbeleuchtung erhalten soll. Aber nicht vom Schleußiger Weg her, sondern von der Bismarck-Brücke, also von Neuschleußig aus.

Wie auch der Osten in dieser Zeit ist der Leipziger Westen eine von Arbeitern geprägte Ansammlung neuer Stadtteile. Nach wie vor werden hier Schlafgänger gesucht, die das Haushaltsgeld derer aufbessern, die täglich stundenlang schuften, um über die Runden zu kommen. Bei den Stadtverordnetenwahlen holt die SAP im Westen die meisten Stimmen und wird nur noch im Osten vergleichbar stark unterstützt. Apropos SAP, diese hatte kurz zuvor bei den Reichstagswahlen im Jahr 1890 auf nun 20 % zulegen können und sich nach dem endgültigen Ende der Sozialistengesetze Bismarcks beim Parteitag im Oktober 1890 in Halle in SPD umbenannt. Und ist nun gegen den Widerstand des eisernen Kanzlers, vorangetrieben durch die Arbeiterschaft, zu einer treibenden politischen Kraft aufgestiegen.

Im Leipziger Westen gibt es hingegen ein Thema, was noch heute die Gemüter bewegt. Man spricht hier schon lange über einen „Elster-Saale-Kanal“. Und viele sind sich ganz sicher: Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird er kommen. Man muss nur noch den ärgsten Kritiker, den Oberbauinspektor aus Bremen überzeugen. Der wiederum hat keine Lust und eine andere Idee: Über Elster und Elbe geht es schneller nach Hamburg. Die Volksseele im Leipziger Westen kocht hoch.

Und dies nicht nur bei diesem Thema im Dezember des Jahres 1891.

Übersichtskarte über die Dörfer westlich von Leipzig 1880. Quelle: Stadtarchiv
Übersichtskarte über die Dörfer westlich von Leipzig 1880, also 11 Jahre vor der Eingemeindung nach Leipzig. Quelle: Stadtarchiv

Noch existieren sie alle noch – die Ortsteilzeitungen wie das „Reudnitzer Tageblatt“, die SPD-Zeitung LVZ ist noch nicht gegründet und soll erst ab 1894 ihren Siegeszug durch Leipzig antreten. Was das eher bürgerliche „Reudnitzer Tageblatt“ im Osten der Stadt ist, ist hier die Leipziger „Westend-Zeitung“ auf der gegenüberliegenden Seite Leipzigs. In der Ausgabe vom 1. Dezember 1891 darf man sich bei der Lektüre auf ein Déjà-vu freuen – die politischen Zeilen irgendwie fühlen sich zeitgemäß an. Unter der Überschrift „Das sozialistische Programm bei den Stadtverordnetenwahlen“ geht es gleich ordentlich zur Sache. Erst einmal listet der Redakteur auf, was die Sozialdemokraten so alles wollen.

„Die Forderungen, welche die Sozialdemokraten bei den Stadtverordnetenwahlen in Leipzig und anderwärts aufstellen, beruhen zweifellos auf einer Feststellung seitens der Centralleitung der Partei; denn im wesentlichen lauten dieselben in allen Orten identisch und zeigen nur solche Abweichungen, welche durch Rücksichtnahme auf bestimme lokale Verhältnisse geboten sind. Die Hauptforderungen des sozialdemokratischen Kommunalprogramms sind folgende: Gerechte Verteilung der Kommunalanlagen, Reform des Volksschulunterrichts: Unentgeltlichkeit sämtlicher Lehrmittel, Mehreinstellung tüchtiger Lehrkräfte und bessere Besoldung des Lehrerpersonals, Neueinteilung der Klassen in der Weise, daß nicht mehr als 40 Kinder auf die Lehrkraft kommen, Errichtung einer Selekta (Anm. d. Red.: eine „Bestenklasse“), Anstellung eines Schularztes, …“

Kurz durchatmen – und weiter geht’s mit den Forderungen der SPD in Leipzig: „Errichtung städtischer Badeanstalten, deren Benutzung kostenfrei ist, Fortfall des Submissionswesens, Übernahme aller Unternehmungen öffentlichen Gepräges auf die Stadt, Festsetzung eines angemessenen Maximal-Arbeitstages und eines den heutigen Kulturverhältnissen angemessenen Minimallohnes für alle im städtischen Dienst beschäftigten Arbeiter, Aufbereitung der Gehälter der unteren Beamten, Wegfall der Unkosten für Beerdigungen und Grabstätten, Neuordnung der Armenpflege, Ausbau der öffentlichen Promenaden und Anlagen, Öffentlichkeit aller Kollegiensitzungen.“

Die Abrechnung mit den Forderungen schiebt der Redakteur direkt hinterher, er scheint nicht ganz einverstanden zu sein. „Schließen sich viele Wünsche größtenteils eng an die konkreten Forderungen des neuen sozialdemokratischen Parteienprogramms an, so ist hier wieder nicht zu verkennen, daß die ‚Proletarier‘ Meister im Versprechen sind. Sollte auch nur ein geringer Teil dieser Forderungen verwirklicht werden, so würde ein Gemeinwesen, welches nicht über erhebliche Reichtümer verfügt, bald an den Rand des Bankrottes kommen.“

Aus der anfänglichen Kritik wird regelrechte Wut, wenn auch eine, die einem Versuch, hier Zahlen zu den Forderungen beizusteuern, galant aus dem Weg geht. „Mit einer Ungeniertheit wird hier Unmögliches versprochen, mit einer derartigen Spekulation auf die Kritiklosigkeit der großen Massen werden hier Wohlthaten verheißen, daß es förmlich entmutigend wirkt, wenn man wahrnimmt, daß ein großer Teil der Wählerschaft ein solches Programm als ernst gemeint betrachtet. Daß aber die ‚Genossen‘, welche auf Kosten des allgemeinen Kommunalsteuersäckels diese Versprechen machen, selber nur einen verhältnismäßig geringen Bruchteil zu den Gemeindelasten beitragen, ist das Bezeichnendste an dem sozialdemokratischen Kommunalwunschzettel.“

Nun kann man mal überlegen, wer wohl beim Großteil der Forderungen Recht behalten hat? Der Redakteur oder die SPD?

+++++

Die Fernkommunikation erreicht übrigens in dieser Zeit einen ganz neuen, ungeahnt guten Servicecharakter: „Die öffentlichen Fernsprechstellen bei dem Kaiserlichen Telegraphenamte in Leipzig – Hauptpostgebäude am Augustusplatz, sowie in Lindenau, Plagwitz, etc. sind von 7 Uhr morgens bis 9 Uhr abends ununterbrochen geöffnet.“ Zumindest ist also in der Nacht noch Ruhe mit dem Geplapper. Dafür gibt es schon große Sportveranstaltungen bis in die Nacht hinein.

Doch dazu mehr in der kommenden Folge 2, wenn sich unter anderem der “Elster-Saale-Kanal” als das älteste Großprojekt Leipzigs entpuppt.

Bereits erschienene Zeitreisen durch Leipzig auf L-IZ.de

Der Leipziger Osten im Jahr 1886

Der Leipziger Westen im Jahr 1886

Leipzig am Vorabend des I. Weltkrieges 1914

Einblicke in die Jüdische Geschichte Leipzigs 1880 bis 1938

Alle Zeitreisen auf einen Blick

In eigener Sache: Was steht in der aktuellen Ausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG?

In der neuen Leipziger Zeitung gibt es 800 Jahre Rebellion, Reiberei und rücksichtslose Renovierungen

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Michael Freitag über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar