Ach, hätten sie doch nur alles aufgeschrieben, auf schönem haltbarem Pergament, in sauberer Kanzleischrift. Aber sie haben nicht. Deswegen geistern diese Jahre 1215 und 1216 seltsam diffus durch die Leipziger Geschichte. Auch als Jubiläum. 800 Jahre Errichtung der Pleißenburg könnte man doch in diesem Jahr feiern, schlägt die LTM vor. Denn 1217 ließ Markgraf Dietrich drei Burgen bauen. Mitten in der Stadt Leipzig.

Auch wenn der entsprechende Abschnitt in den Pegauer Annalen erst 20 Jahre später niedergeschrieben wurde. Trotzdem sind sie bis heute die einzige Quelle, die über diesen Moment in der Leipziger Geschichte berichten, als die Bürger dieser Stadt sich möglicherweise anschickten, die Stadt in die Hände von Kaiser Otto IV. zu bringen. Kurzzeitig schien Dietrich, Markgraf von Meißen, die Herrschaft über die Mark Meißen zu entgleiten, die er erst 1199 für die Wettiner zurückerworben hatte.

Aber er wurde später nicht ohne Grund der Bedrängte genannt. Nicht einmal so sehr, weil die Leipziger rebellierten und die Stadt für zwei Jahre seiner Gewalt entzogen. Ein Bürgeraufstand, der wahrscheinlich nicht das war, was die bisherige Leipziger Stadtgeschichte so erzählt. Auch 2012 wurde das Märchen wieder so hervorgeholt. Die Leipziger hätten sich dermaßen geärgert, dass Dietrich in der Stadt das Thomaskloster gestiftet hatte, dass sie das Baumaterial von der Baustelle stahlen und später auch noch gegen Dietrich rebellierten.

Eine Geschichte, die schon seit dem 15. Jahrhundert (erstmals in der „Meißner Chronik“) so erzählt wurde und die so nicht stimmen kann, wie Enno Bünz feststellt. Er hat die Geschichte trotzdem als Beitrag für den Band „Unruhiges Leipzig“ geschrieben und den Bürgeraufstand dort auseinanderklamüsert.

Aber die Sicht aus dem 21. Jahrhundert trügt. So rebellisch war das Leipziger Volk 1215 wohl nicht. Nur die Zeiten waren durchwachsen. Und über Deutschland tobte der Kampf zwischen zwei Kaisern – den Welfen und den Staufern. Wenn man diese Geschichte erzählt, ändert sich die Perspektive. Dann ist Leipzig für einen Moment mitten im Fokus der reichweiten Ereignisse und wird zum Zankapfel. Immerhin tobte der Streit, den die deutschen Kurfürsten selbst verursacht hatten, als sie sich nicht auf einen Kaiser einigen konnten, schon seit Jahren. Und völlig unklar war, wer am Ende die Oberhand behalten würde – Otto IV. aus dem Geschlecht der Welfen, zu dem sich Dietrich lange gehalten hatte, oder Friedrich II., der junge Staufer.

Im Nachhinein weiß man ja, wer der Sieger blieb. Aber 1215, da steckte die Markgrafschaft Meißen mittendrin in diesem Streit. Der Raum um Chemnitz und Altenburg war kaiserliches Hinterland. Der Kampf um den Einfluss der Kaiser aus dem Haus der Welfen war noch längst nicht entschieden. Wer wird künftig herrschen im Pleißenland?

Dietrich war zwar einer der mächtigsten Herrscher im Reich, aber der Streit schien auch seine Untertanen zu entzweien. Nicht nur Kaiser Otto versuchte, Dietrich zu schwächen und ihm Land abzugewinnen, auch Kardinal Albrecht aus Magdeburg versuchte in diesen streitbaren Zeiten, seinen Einfluss auszuweiten. Taucha gehörte ihm schon. Und er griff zum beliebtesten Mittel geistlicher Herrscher der Zeit, um den Gegner zu schwächen: Er exkommunizierte Dietrich. Möglicherweise unter falschem Vorwand.

Die Historiker haben nur den Zusatz in den Pegauer Annalen, der überhaupt einen Eindruck davon gibt, was damals in Leipzig passiert sein muss. Immerhin einer Städtegründung der Wettiner. Da war es schon ein Affront, dass sie es schafften, den eigenen Landesherrn zwei Jahre lang auszusperren.

Aber manche Formulierung in den Pegauer Annalen deutet darauf hin, dass die markgräflichen Dienstmannen, die Ministerialen, eine wesentliche Rolle in dieser Geschichte spielten und eine Art Leipziger Bruderschaft, die sich als frühe Leipziger Oberschicht begriff, vor allem getragen vom frühen Adel. Und der schien in diesem unsicheren Moment der Geschichte die große Chance zu wittern, Leipzig nicht nur einem anderen Herren anzudienen sondern vielleicht sogar mehr Rechte herauszuschlagen. Andere Städte hatten es längst zu Reichsstädten gebracht. War das das Ziel?

Das weiß niemand. Es gibt keine weiteren Akten für diesen Moment der Geschichte, der im Herbst 1216 damit endete, dass Dietrich mit einem Trick doch noch mit seinen Mannen in die Stadt kam. Er scheint die Alarmglocke der Stadt lahmgelegt zu haben und etliche seiner Leute scheinen schon in die Stadt gelangt zu sein, so dass die Gegenwehr der „Leipziger“ nicht mehr zustande kam.

Schon das ein Moment, der darauf hindeutet, dass es wohl nicht die Leipziger Bürger gewesen waren, die hier rebelliert hatten, sondern die Ministerialen und ihre Anhänger, die ihren Moment gekommen glaubten, als im Dezember 1215 ein Mordanschlag auf Dietrich verübt wurde. Es riecht geradezu nach dem Stoff einer missglückten Intrige, in der die städtischen Adligen versuchten, mit mehreren streitbaren Parteien ihren Deal zu machen.

Das hätte schiefgehen können. Und Leipzig wäre eine Stadt im Bistum Magdeburg geworden. Oder eine Reichsstadt, die immer auf das Wohlwollen der Kaiser angewiesen gewesen wäre.

Man darf ja nicht vergessen, dass es die Wettiner waren, die Leipzig erst zur prosperierenden Messestadt machten. Hätte Leipzig diese Rolle auch in anderen Abhängigkeiten bekommen?

Das ist eine völlig offene Frage. Denn auch das Stadtrecht hatten sie 50 Jahre zuvor von den Wettinern bekommen. Die hatten die – möglicherweise planmäßig angelegte – neue Stadt gegründet. Und als die Leipziger im Herbst 1216 kurzzeitig die Oberhand hatten, ließen sie sich auch alle schon von Markgraf Otto dem Reichen gewährten Rechte bestätigen. Davon erzählt ja der seltsame Stadtbrief, der irgendwie wie ein späteres, eiligst hingeschriebenes Duplikat wirkt.

Was auch noch etwas anderes erzählt, was bei der „Bürgeraufstand“-Geschichte nicht passt: Dass es nicht die einfachen Leipziger, die Bauern und Handwerker waren, die da rebellierten, sondern die Reichen und gut Bewaffneten der Stadt, die mit dem Landesherrn zumindest fast auf Augenhöhe verhandeln konnten. Er war noch auf die Unterstützung seines niederen Adels angewiesen. Der aber durchaus eigene Interessen verfolgte. Die Pegauer Annalen erzählen nicht wirklich von einem Aufstand, sondern von einer „mächtigen Verschwörung“, damit eigentlich von einer Verschwörung der Mächtigen. Denn die Frage, zu welcher Partei sich Dietrich hielt, der durchaus bereit war, seine Macht auch mit Truppen in die Waagschale zu werfen, konnte durchaus darüber entscheiden, welcher der beiden rivalisierenden Kaiser nun am Ende gewinnen würde. Die Leipziger Ministerialen jedenfalls schlossen sich der Verschwörung an, die Dietrich töten wollte und Leipzig in die Hände des welfischen Kaisers Otto gebracht hätte.

Der Mordanschlag ging schief. Der „Seitenwechsel“ Leipzigs ging auch schief. Am Ende erschien Dietrich zusammen mit dem jungen staufischen Kaiser Friedrich II. vor der Stadt. Und Enno Bünz hat Recht, wenn er die Erzählung in den Pegauer Annalen für etwas abenteuerlich hält.

Aber die Geschichte vom „Bürgeraufstand“, die später draus geworden ist, ist wohl noch abenteuerlicher.

Wahr ist, dass mit Dietrich auch Friedrich II. in die Stadt einzog. Dietrich ließ augenscheinlich die damaligen Stadtmauern niederreißen. Was eh eine Geschichte ist, die Rätsel aufgibt. Denn: Standen die schon da, wo sie später wieder aufgebaut werden sollten? Oder war es eine viel kleinere Stadt, die Dietrich sich zurückgeholt hat?

Auf keinen Fall scheint das Thomaskloster der Grund für die Rebellion gewesen zu sein, gerade weil es nicht gleich 1212 – mit Stiftung durch Dietrich – gebaut wurde, sondern frühestens ab 1215/1216, denn dass es erst 1217 bezogen wurde, belegt zumindest andeutungsweise auch die Geschichte des berühmten Minnesängers Heinrich von Morungen, selbst einst Ministerialbeamter Dietrichs von Meißen und ab 1213 in Leipzig wohnhaft. Aber ins Thomaskloster trat er wohl erst 1217 ein, als Laienbruder. Eine Tafel auf der Westseite der Thomaskirche erzählt davon noch. Bis 1221 ist seine Anwesenheit in Leipzig belegt, nach 1222 muss er hier gestorben sein.

Auch im ersten Band der großen, vierbändigen „Geschichte der Stadt Leipzig“ geht Enno Bünz auf dieses Kapitel ein, das Leipzig mitten hineinrückt in den heftigen Streit zwischen Welfen und Staufern und danach wie einen kostbaren Augapfel erscheinen lässt. Denn waren die drei Burgen, die Dietrich in der Stadt errichten ließ, nun eigentlich gegen die Bürger gerichtet, wie immer erzählt wird? Oder sicherte hier der Landesherr seine Macht über die wichtigste Stadtgründung in seinem Reich?

Und zwar gegen Otto IV. – zum Beispiel.

Von den drei Burgen, die er – wahrscheinlich ziemlich eilig und provisorisch – bauen ließ, verfestigte sich später nur eine Burg dauerhaft: die am Südwestende der Stadt, die später aus Stein gebaut wurde, zuletzt noch zum Renaissanceschloss umgebaut wurde, bevor sie dem Bau der Festung Pleißenburg weichen musste.

An den anderen beiden Burgstandorten siedelte der Landesherr schon 20 Jahre später Mönche an – Franziskaner und Dominikaner. Sozusagen friedliche Burgen des Glaubens in einer Stadt, die sich in den nächsten Jahrhunderten zum großen Handelsplatz mauserte. Die Spuren der Burg, die Dietrich 1217 bauen ließ, sind heute genauso verschwunden wie die der späteren Pleißenburg. Heute steht das Neue Rathaus dort.

Und dass man es nicht mit einem Bürgeraufstand im heutigen Sinn zu tun hatte, wird dadurch deutlich, dass Dietrich seine Macht über Leipzig erst dadurch wieder festigen konnte, dass er den Aufständischen ihre alten Privilegien zusicherte – wozu nicht nur die alten Stadtrechte gehörten, sondern auch die Sonderrechte der Grundherrschaft. Er brauchte seine Ministerialen. Sie waren die Basis seiner Herrschaft. Und Bünz stellt die nur zu berechtigte Frage: „Betrieben die Leipziger damals womöglich eine Schaukelpolitik?“

Am Ende sahen wohl auch die Leipziger Verschwörer ein, dass sie mit Otto auf das falsche Pferd gesetzt hatten. Dessen Stern war seit 1214 im Sinken, schreibt Bünz. Um Friedrich II. scharten sich immer mehr Mächtige. Bis auf wenige Steinmauern ist diese Epoche fast völlig aus dem Leipziger Stadtbild getilgt. Selbst das Grab Heinrichs von Morungen ist verschwunden. 35 seiner Lieder haben überdauert. Aber sie wirken, wenn man Leipzig heute so betrachtet, recht fremd. Auch weil das Leipzig, in dem der Minnesänger seine letzten Lebensjahre verbrachte, heute so gründlich verschwunden ist.

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