Das Jahr mit der 1.000-jährigen Erstwähnung Leipzigs geht so langsam zu Ende. Da ging der 100. Geburtstag des Hauptbahnhofs sogar ein wenig unter, auch wenn es am Ende doch noch ein bisschen Blasmusik, Schampus und auch eine kleine Ausstellung gibt. Die wurde am Montag, 30. November, im kleinen Studio des Stadtgeschichtlichen Museums eröffnet.

Natürlich eifrig angepriesen vom Stadtmuseum. Denn so ein Ding eröffnet man nur einmal. Oder auch drei Mal, auch wenn Letzteres diesmal nicht Thema der Ausstellung ist. Auch wenn es eigene Ausstellungen wert wäre – die Zerstörung im 2. Weltkrieg und der Wiederaufbau bis 1965 zum Beispiel. “Eine bemerkenswerte Aufbauleistung der Nachkriegszeit”, sagt Christoph Kaufmann, der im Stadtgeschichtlichen Museum die Fotosammlung betreut und auch die kleine Studioausstellung zusammengestellt hat.

Und wenn er sein Archiv durchsucht, bekommt er sofort 1.200 Hinweise auf Sammlungsstücke zum Hauptbahnhof. Und wenn er gar nach allen Leipziger Bahnhöfen sucht, kann er schwelgen. Das versucht er in der kleinen Studioausstellung ein wenig, in der es auch ganz komprimiert die ganze Vorgeschichte zum Leipziger Superbahnhof gibt. Denn alles begann ja noch im Pferdezeitalter: “Als am 07.04.1839 die 135 km lange Bahnlinie nach Dresden eingeweiht wurde, ahnte niemand, welchen Aufschwung dieses Transportmittel einmal nehmen würde. Nur knapp 50 Jahre später gab es in Leipzig bereits sechs Bahnhöfe, die von der Wichtigkeit und der Wertschätzung des neuen Transportmittels Eisenbahn zeugten. Und doch konnten diese Bahnhöfe am Ende des 19. Jahrhunderts den rasant gestiegenen Verkehr nicht mehr bewältigen. Die Verkehrsbedingungen waren für eine Großstadt mit inzwischen 456.000 Einwohnern nicht mehr zeitgemäß. Eine Änderung konnte nur durch einen kompletten Neubau eines Bahnhofs erreicht werden.”

Hauptbahnhof, Querbahnsteig, 1917. Foto: Paul Kabisch
Hauptbahnhof, Querbahnsteig, 1917. Foto: Paul Kabisch

Museumsdirektor Dr. Volker Rodekamp sprach bei der Gelegenheit gleich mal von den drei Goldenen Zeitaltern Leipzigs. Die Industrialisierung und das Wachstum Leipzigs zu einer modernen Industrie- und Messestadt ist für ihn das dritte Goldene Zeitalter, gekennzeichnet nicht nur durch das gewaltige Wachstum der Industrie und der Bevölkerung, sondern auch durch das rasant erhöhte Tempo und den enorm wachsenden Bedarf an großen Transportleistungen. Als 1839 die erste deutsche Ferneisenbahn zwischen Leipzig und Dresden in Betrieb ging, da war das neue Tempo für die Sachsen noch atemberaubend. 20 Jahre später hatten sie sich dran gewöhnt und die vier Bahnhöfe im Leipziger Norden barsten aus allen Nähten, konnten die zunehmenden Passagiermengen gar nicht mehr abwickeln. Da wurden diese Bahnhöfe schon einmal modernisiert – im Tudor-Stil. “Die hatten ja damals keine anderen Vorbilder”, sagt Kaufmann, der lauter spannende Einzelstücke auch aus der frühen Bahnhofsgeschichte gesammelt hat. Und er hat die Gelegenheit genutzt, die vier Bahnhöfe, die es bis 1909 anstelle des Hauptbahnhofs gab, einzeln vorzustellen. Sie sind aus dem Gedächtnis der Leipziger fast verschwunden: der Dresdner Bahnhof als der älteste, der Thüringer und der Magdeburger Bahnhof, die bis 1909 gleich daneben standen, und der Berliner Bahnhof, der schon viel weiter draußen an der heutigen Berliner Straße entstand.

Das alles funktionierte schon in den 1890er Jahren nicht mehr und die Eisenbahnverwaltungen von Sachsen und Preußen verhandelten zäh und mit spitzem Stift über das wohl größte Gemeinschaftsprojekt der preußisch-sächsischen Geschichte. Als man 1907 endlich mit dem Abriss vom Westen, vom Thüringer Bahnhof her begann, war die Leipziger Bevölkerungszahl schon knapp an die 600.000 heran. Als man mitten im Krieg am 4. Dezember 1915 die Einweihung feierte, war Leipzig schon mal kurz 600.000-Einwohner-Stadt gewesen.

Was die kleine Studioausstellung auszeichnet, sind natürlich neben den kleinen und großen Karten, die echten Kartenkundlern ermöglichen, das riesige Bahnhofsterrain (die einstigen Gerberwiesen) in seiner ingenieurtechnischen Umwandlung zu erleben, natürlich die Fotografien – in diesem Fall die frühesten Fotografien von den Leipziger Bahnhofsgebäuden genauso wie die eindrucksvollen Aufnahmen um das Jahr 1900 herum. Da gab es ja den Hauptbahnhof noch nicht, aber die Leipziger hatten ja mitbekommen, was da verhandelt wurde. Und einige der bis heute maßgeblichen Fotografen dieser Zeit bannten die alten Bahnhöfe noch im letzten Moment auf Glasplatte, bevor der Abriss begann (auch den fotografierten sie) und aus dem frei geräumten Gelände von Westen her der neue Bahnhofsgigant wuchs. Natürlich fotografierten sie auch den Bau, die imposanten Stahlkonstruktionen und das gigantische Bauwerk des Querbahnsteigs – gern mit langer Blickachse zum Dresdener Bahnhof, der noch lange im Betrieb war, als die Westseite des neuen Bahnhofs schon bespielt wurde.

Es gibt auch ein paar nicht so häufig gezeigte Bilder vom Vorplatz und vom dicht bebauten Gelände auf der Ostseite des Bahnhofs, dafür weniger vom Innenleben und vom Passagiertrubel. Das ist anderswo reich bebildert. Christoph Kaufmann wollte lieber das Baugeschehen und den frühen architektonischen Eindruck von diesem Schlüsselprojekt eines neuen Zeitalters zeigen. Für Volker Rodekamp repräsentiert der Hauptbahnhof wie kein anderes Leipziger Bauwerk dieser Zeit “die Dimension der Veränderung”.

Gruppenbild mit Eisenbahnern vor dem Thüringer Bahnhof. Foto: unbekannter Fotograf
Gruppenbild mit Eisenbahnern vor dem Thüringer Bahnhof. Foto: unbekannter Fotograf

Für heutige Leipziger ist das ja nicht mehr vorstellbar, eine Stadt ohne diese 298 Meter lange Bahnhofsfront. Der Gigant steht da, verfrühstückt jeden Tag noch immer 120.000 Reisende (womit sich Leipzig wie bei so Vielem auf Platz 12 der deutschen Großstädte einreiht) und es ist eigentlich undenkbar, dass eine Großstadt ohne so ein Riesending auskommen könnte. Aber für das frühe 20. Jahrhundert war es noch eine Herkulesaufgabe, an der die namhaftesten Baufirmen aus Sachsen arbeiteten. Und als das Ding fertig war, war auch gleich noch ein ganzes “Goldenes Zeitalter” zu Ende. So schnell kann es gehen. Da gab es dann nur einen kleinen Großen Bahnhof am 4. Dezember. Zwei Jahre später hatte Leipzig 80.000 männliche Einwohner weniger – sie waren im Krieg oder auch schon über den Haufen geschossen oder vergast im ersten modernen Großkrieg, in dem schon mal alle Tötungsmaschinen für den nächsten Großkrieg ausprobiert wurden.

Haben die herrschenden Taugenichtse was draus gelernt? Augenscheinlich nicht. Das Wort Krieg geht ihnen wieder so leicht aus dem Mund, dass einem angst und bange werden darf. Und so erinnert dieses Riesenbauwerk auch daran, wie zwiegespalten die Seele der westlichen Zivilisation ist – zwischen technischer Gigantomanie und mörderischer Überheblichkeit schwankend wie ein Grashalm im Wind.

Und so zeigt die kleine Ausstellung auch durch die Abwesenheit der sonst üblichen Passagiermassen, dass hier die eine Seite des westlichen Traumes in Stahl und Beton gebaut wurde: die bis heute anhaltende Faszination des reinen, lichterfüllten umbauten Raums, ein Hohelied auf das immer furiosere Zeitalter der Dampfloks, die ja bekanntlich den Traum bis weit ins 20. Jahrhundert trugen.

Die andere Seite fehlt – und das fällt auf, gerade wenn man diese riesigen leeren Hallen sieht. Kein Messegedrängel, keine Soldatenorchester, keine zerlumpten Heimkehrer. Das sollte alles noch kommen in diesem besinnungslosen 20. Jahrhundert. Und man wäre fast beruhigt, wenn man nicht wüsste, dass das 21. Jahrhundert gerade dabei ist, noch viel besinnungsloser zu werden.

So wird das kleine Studio zu einem Ort der Einkehr. Nicht nur für Eisenbahnfreunde.

Die Ausstellung “Unter einem Dach. Fotografien zur Baugeschichte des Leipziger Hauptbahnhofes” ist im Studio des Stadtgeschichtlichen Museums im Böttchergässchen 3 vom 1. Dezember 2015 bis zum 6. März 2016 zu sehen.

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