Das Jahr 2015 hat so einiges ausgelöst in Leipzig. Die einen haben sich etwas intensiver mit der 1.000-jährigen Geschichte dieser Stadt beschäftigt, die anderen mit den Schatten der Vergangenheit. Und eigentlich wollte Schwarwel einen Leipzig-Jubiläums-Film machen. So, wie er 2014 einen 1989-Film gemacht hat und 2013 einen Völkerschlacht-Film und einen Wagner-Film. Doch dann kam ihm das Leben dazwischen.

Und Schwarwel ist wohl der letzte Künstler in Leipzig, der an so einer Stelle einfach weitermacht, Kunst um der Kunst willen, wie es andere Leute machen ohne groß innezuhalten. Projekt fertigmachen und abliefern. Und das war’s dann. Was dazwischenkam, war die Beschäftigung mit Sterben, Pflege und Tod, die den im Film auftretenden Autor ganz in Anspruch nehmen. Das wollte Schwarwel nicht ausblenden. Auch weil er seine Leipzig-Geschichten immer auch als Betroffener erzählt. Er hält sich nicht raus aus der Geschichte, erst recht nicht, wenn es die seiner Geburtsstadt ist. Und so erzählt er die Geschichte seiner Stadt aus ganz persönlichem Blickwinkel als die – jüngere – Geschichte seiner Familie, seiner Kindheit und Jugend und seines Verhältnisses zum Vater.

Das Wachen am Krankenbett erinnert ihn an die Erlebnisse mit seinen Eltern, Großeltern und Geschwister, an die Hoppe-Reiter-Spiele, an Kindergarten und Schule und das zunehmende Unbehagen Ende der 1980er Jahre. Der Herbst 1989 taucht wieder auf. Der hat nicht nur Schwarwel geprägt. Aber Schwarwel gehört zu jenen immerwachen Leipzigern, die ihre Träume von einer gerechteren und ehrlicheren Gesellschaft damals nicht gleich wieder entsorgt haben.

Und man ahnt beim Schauen dieses 23-Minuten-Films, warum das so ist: All das war bei ihm nie nur kurzes Aufbegehren, ein Mitlaufen, weil alle gelaufen sind, keine schnelle Ersatzbefriedigung. Wer seine Karikaturen und Comics kennt, weiß, dass für ihn das Menschliche immer Anspruch war, ein Ziel, um das man auch mit spitzem Stift und bissigem Humor kämpfen musste. Auch dann noch, als sich die vielen Mitläufer alle wieder einrichteten in neuen Nischen. Das haben unsere geliebten Brüder und Schwestern im Westen bis heute nicht begriffen, wie viele von ihnen in genauso engen und kleinkarierten Nischen leben, Nischen, die man den scheinbar so politikabstinenten Ostdeutschen gern vorwarf. Das nimmt sich nichts. Das ist ein Herz und eine Soße. Manchmal auch eine, die schon ins Schwarze und Braune geht. Gern mit aufgesetztem Heiligenschein.

Deswegen ist nicht nur Schwarwel entsetzt, dass er 2015 wieder an gleicher Stelle demonstriert wie 1989 – nur diesmal gegen die auftrumpfenden Radikalen von Legida, die 2015 ein paar Monate lang mit hunderten „besorgten Bürgern“ im Gefolge auch Leipzig in Atem hielten – bis sie zu einem kläglichen rechtsradikalen Häufchen zusammenschmolzen.

Aber Legida und Pegida kommen ja nicht aus dem Nichts. Sie erzählen von den neuen (alten) Nischen, in die sich die Nur-Mitläufer seit 1990 zurückgeduckt haben, wo sie ihre Ressentiments, Ängste und Wehleidigkeiten pflegten. Nie haben sie sich eingebracht – aber jetzt laufen sie mit vorwurfsvoller Miene herum, fühlen sich ungeliebt und sind voller Wut. Natürlich nur auf die anderen. Sie sind ja nicht schuld an irgendwas. Nicht-Mitmacher sind nie schuld an irgendwas.

Aber wie leben sie eigentlich? So intensiv und verletzlich wie Schwarwel ganz bestimmt nicht. Denn davon erzählt ja der Film: Wie sehr sich ein Leben verquickt mit den markanten Orten der Kindheit. Das größte Entsetzen im Leben des kleinen Burschen, der sich natürlich noch nicht Schwarwel nannte: das „Völki“ könnte über Nacht einfach so verschwinden. Das ist fast noch schlimmer als das Verschwinden geliebter Menschen, auch wenn das lange Abschiednehmen von den Vertrauten bis ins Herz schneidet, wehtut und eigentlich unfähig macht zum Weiterarbeiten.

Auch deshalb musste Schwarwel die Geschichte des Vaters mit einarbeiten in den Film, die Erinnerungen an die gemeinsamen Abenteuer der Kindheit, die immer verflochten waren mit dieser Stadt, die nun im Jahr 2015 ein Jubiläum feierte, das eigentlich keines ist. Wie feiert man die 1.000-jährige Ersterwähnung einer Stadt, wenn es nicht nur ein kostümiertes Volksfest werden soll? Und: Wie viel von dieser Geschichte ist tatsächlich (noch) präsent.

Im Schnelldurchlauf bringt Schwarwel dann doch noch diese eigentlich historisch kurze Geschichte ins Bild. Es sind nun einmal nur 33 Generationen seit der Ersterwähnung durch Bischof Thietmar von Merseburg, 29 Generationen seit der Stadtrechtsverleihung. Familien erinnern sich gerade einmal zwei, drei Generationen zurück – vielleicht sogar ein paar mehr, wenn sie ihr Stammbuch gut gepflegt haben. Aber als lebendige Familienmitglieder sind meistens nur noch die Urgroßeltern in Erinnerung, die Großeltern. Von ihnen kennt man noch Geschichten und Anekdoten, hat Bilder im Kopf, Gerüche, aber auch verstörende Szenen. Sie gehören schon in eine andere Welt und eine andere Zeit.

Ganz anders bei Eltern und Geschwistern, die immer mit dabei waren, wenn es in der Kindheit wichtige Zäsuren gab. Jede Ecke der elterlichen Wohnung ist im Kopf gespeichert. Wenn der trauernde Künstler jetzt durch die Wohnung der Eltern geht, ist alles vertraut. So vertraut, dass er es eigentlich nie wiedersehen wollte. Das sitzt als Schmerz im Hinterkopf, wie er damals einfach erklärungslos wegging nach Berlin. Und den ratlosen Vater zurückließ. Nie kann man all das wieder gut machen, was man selbst als junger Mensch an Verletzungen ausgeteilt hat. Aber anders wäre man nie fortgekommen, hätte sich aus der ratlosen Umarmung nicht lösen können.

Glücklich, wer dann noch die Gelegenheit hat, die alten, offen gebliebenen Fragen zu beantworten. Und Abschied zu nehmen. Was Schwarwel mit diesem Film auf eine Weise tut, dass sich manch anderer Leipziger darin wiedererkennen kann. Vielleicht mit anderen Geschichten, anderen Orten und Bildern. Aber wer wach geblieben ist und verletzlich, der merkt in so einem Moment, dass Leipzig nicht wegen all der völlig überzogenen Vermarktungs-Bilder das ist, was es seit Jahrhunderten für Menschen anziehend gemacht hat. Menschen, die Schwarwel am Ende des Trickfilms regelrecht herabregnen lässt – einmal die vielen Gestalten aus der Leipziger Geschichte, und dann all die Freunde, Bekannten, Netzverbundenen, mit denen der Grafiker aus dem Leipziger Süden heute zu tun hat, mit denen er arbeitet, Ideen umsetzt, Projekte verwirklicht.

Da schließt sich der Kreis, denn genauso oder ähnlich wird es auch den Großen in der Leipziger Geschichte gegangen sein: Hier haben sie Kontakte gefunden, Mitstreitende und Mitwirkende, Leute, die Teil eines großen Planes wurden, den niemand irgendwo aufgemalt hat, der aber in den Köpfen derer entstand, die genau diesen Ort als den richtigen für sich empfanden, an dem sich ihre Idee verwirklichen ließe.

Und deshalb fand Schwarwel auch, dass Wagner nun wirklich nicht in seinen Film gehört, auch nicht als Hintergrundmusik. Auch keine Motetten und Kantaten, kein Bach. Dafür klingt Mendelssohns „Ein Sommernachtstraum“ an, was auch von einer gefühlten Verwandtschaft des Künstlers erzählt. Und zwingend das absolute Leipzig-Lied, das nun seit Jahrzehnten zum Jahreswechsel im Gewandhaus erklingt: Beethovens „Lied an die Freude“, gesungen vom Gewandhauskinderchor.

Das Lied spielte ja auch 2015 wieder eine Rolle, als die Möchtegern-Patrioten von Legida unbedingt durchs Waldstraßenviertel marschieren mussten, das Viertel, in dem bis zu seiner Vertreibung und Vernichtung das Leipziger jüdische Bürgertum zu Hause war. Die Bewohner des Waldstraßenviertels rissen bei dieser Provokation die Fenster auf und beschallten die neuen Menschenfeinde mit Beethovens „Ode an die Freude“.

Und erst recht deutlich wird diese innige Beziehung Schwarwels zu seiner Heimatstadt ganz zuletzt im Abspann, wenn er Mitstreiter, Freunde und Wegbegleiter aufzählt und dankt. Was man ja viel zu selten tut im Leben: Sich zu bedanken bei all jenen, die eigentlich erst den Kosmos Stadt für einen ausmachen.

Das können Jubiläumsfeiern nie zeigen, wie sehr „Stadt“ für die eigentlichen Bewohner immer aus einem Kosmos lebendiger Beziehungen besteht. Und wo sich viele unterstützen, da entstehen erst all die Dinge, die später zur Legende werden und zum kulturellen Gedächtnis einer Kommune.

TV-Premiere für den Film gab es natürlich schon im Herbst 2015 im MDR. Aber jetzt ist der Trickfilm auch wieder als DVD erhältlich. Und so Mancher, der ihn sich – in Familie oder mit Freunden – anschaut, wird einen Großteil der Emotionen wiederentdecken, die die wirklich hier lebenden Leipziger mit diesem Flecken Erde verbinden.

Schwarwel „Leipzig von oben“, Glücklicher Montag, Leipzig 2016

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Wieviel Liebe schon allein in so einer Rezension stecken kann. Beeindruckend.

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