"Hätte ich nicht gedacht, dass wir das immer wieder so hinkriegen", sagt ein gut gelaunter Volker Rodekamp, Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums, an einem sonnigen Septembertag an der berühmten Demokratieglocke auf dem Augustusplatz. Es ist mal wieder Zeit für einen Fototermin. Der neue Kalender ist fertig, der zwölfte Leipziger-Freiheit-Kalender, der bei Leipzig-Freunden eine Art Geheimtipp ist. Für 19 Euro gibt's ein Jahr Geschichte.

13 großformatige Fotos aus den Bildarchiven des Stadtgeschichtlichen Museums, dem reichsten Bilderfundus, den man sich zur Leipziger Stadtgeschichte wünschen kann. Auch wenn es dort natürlich genau so ist wie auch heute mit der Fotografiererei: Es gibt von den üblichen Sehenswürdigkeiten Tausende fast gleiche Aufnahmen. Richtig spannend aber sind die Bilder, die abweichen vom Üblichen, die die Stadt so zeigen, wie sie um die nächste Ecke ist. Oder an geschäftigen Tagen wie heute. Man braucht jedes Jahr ein neues Thema, das auch Sinn macht. 2012 war es die Wasserstadt – passend zur Eröffnung von “Kurs 1” und der Möglichkeit, vom Stadthafen bis zum Cospudener See zu paddeln.

Was dann auch ermöglichte, die alte Liebe der Leipziger zum Wasser und zum kühlen Bad wieder zu entdecken. Denn Gondel-Erlebnisse auf der Pleiße kannte man auch vor 100 Jahren. Es gab heute längst vergessene Vergnügungsorte auf dem Wasser und an dessen Ufern.

2013 jähren sich immerhin zwei Ereignisse, die im Fotoarchiv mehrfach mit Bildern gewürdigt sind: Wagners Geburtstag, den man mit Bildern von all den Versuchen würdigen kann, dem Burschen ein Denkmal zu setzen. Logisch, dass dies im Mai passiert: Das Mai-Kalender-Blatt des neuen Kalenders zeigt die Grundsteinlegung fürs Richard-Wagner-Denkmal am Matthäikirchhof am 22. Mai 1913. Der berühmte Sockel von Max Klinger steht ja wieder an Ort und Stelle – nur die Skulptur Wagners, die Klinger noch entworfen hatte, fehlt. Und eines ist jetzt schon sicher: Wenn der Entwurf des Bildhauers Stephan Balkenhol auf dem Sockel umgesetzt wird, wird die Kritik wieder anheben. Das Jahr 2013 wird spannend.

Weniger Kritik wird es für die Festlichkeiten zum 100jährigen des Völkerschlachtdenkmals geben. Das wird logischerweise mit dem Oktober-Blatt im Kalender gewürdigt: Ein Polizist mit Pickelhaube schaut kritisch hinüber zum eingerüsteten Denkmalskoloss, der von 1898 bis 1913 errichtet wurde. Ein für die Zeit zumindest ungewöhnliches Bild. Der Wachmann muss wohl dem Fotografen einfach in die Aufnahme gelaufen sein. Danach gab’s bestimmt eine der üblichen Szenen: “Was machen Sie da? Haben Sie eine Fotoerlaubnis? Zeigen Sie mal her!”

Als Fotograf ist Johannes Mühler angegeben, das Jahr: 1910. Was verrät das Archiv? – Johannes Mühler war Pressefotograf und war seit 1905 mit Adresse registriert in Reudnitz-Thonberg, Charlottenstraße 3. Das ist die heutige Baedekerstraße. Das ist fast um die Ecke.

Andere Schwarz-Weiß-Fotos stammen aus dem berühmten Atelier Hermann Walter. So auch das Titelbild, 1912 aufgenommen: der Blick vom Augustusplatz in die geschäftige Grimmaische Straße hinein. Scheinbar ein ganz übliches Stadtbild: emsiges Treiben in einer der “Boomtowns” des Reiches. Leipzig hatte gerade die 600.000-Einwohner-Marke überschritten, war eine der reichsten Städte im Land. Selbst für Volker Rodekamp ist dieses Jahr markant: Hier hat man eine Stadt, die blüht und gedeiht und der es gut geht. Zwei Jahre später sollte es damit vorbei sein. Da würden ein paar von Panik und Unfähigkeit getriebene mächtige Männer das Land und den Kontinent in den ersten Weltkrieg stürzen.Deswegen faszinieren natürlich solche Bilder. Nicht nur wegen des unzerstörten “Café Francais”, berühmt und beliebt bei der Leipziger Intelligenz, das wenig später auf Druck eines erbosten Bürgertums seinen Namen würde ändern müssen, weil Frankreich nun wieder der “Erbfeind” war: Café Felsche. Im zweiten Krieg, den wilde deutsche Mächtige vom Zaun brachen, wurde das Café zerbombt und verschwand aus der Kulisse des einstmals schönsten Stadtplatzes Deutschlands. Das rechts zu sehende Kaufhaus Bamberger & Hertz war gerade 1911 neu eröffnet worden. Noch nicht abzusehen, dass es 1938 von organisierten Nazis in Brand gesteckt werden würde.

Ein in die Zukunft hin völlig offenes Bild, auf dem man zwei Männer mit einer Schubkarre sieht, einen Kohlenkutscher, mehrere Pferdedroschken, eine Straßenbahn und – ein Automobil, das damals noch ein Luxusgefährt war. Man sieht das geschäftige Leipzig. Darum geht es auch in diesem Kalender: “Handel und Handwerk im alten Leipzig”. Das klingt kleiner als es wirklich ist. Im Januar wird die Baustelle des Handelshofes gezeigt, im Februar die Konsum-Filiale in der Windorfer Straße 24, eröffnet 1903. 1905 haben sich gleich mal elf Verkäuferinnen hinter der hölzernen Theke fürs Foto gruppiert.

Im März kommt die Markthalle ins Bild, im April die Weinwirtschaft Hugo Krause. Man sieht eine Stadt im Umbruch. Man sieht eine Stadt in ihrer geschäftigen Blüte. Noch hat keiner an der Uhr gedreht. Noch ist es nicht zu spät. Aber der Betrachter weiß: Hinter den Kulissen arbeiten ein paar von Gier berauschte Männer schon daran, einen Krieg vom Zaun zu brechen, wie es ihn in der Menschheitsgeschichte noch nicht gab.

Da sieht man die beiden Denkmalbilder mit anderen Augen: das vom Völkerschlachtdenkmal, das schon zu seiner Einweihung 1913 für den nationalistischen Aufgalopp missbraucht wurde, und das vom Wagner-Denkmal, wo die gewaltige Tribüne etwas ankündigt, was die nächsten 100 Jahre nicht zustande kommen sollte.

Der Kalender ist ab sofort für 19 Euro im Buchhandel, in der Tourist-Information (Katharinenstraße 8) und in vielen Leipziger Konsum-Filialen erhältlich. Er erscheint in der zwölften Ausgabe, im Hochformat 40 x 50 cm mit Schwarz-Weiß-Fotografien, in einer Auflage von 2.500 Stück. In Altrosa diesmal. Und 1.000 Exemplare sind eigentlich schon weg, weil vorbestellt: Wer diesen besonderen Leipzig-Kalender mag und sammelt, der ordert ihn sich rechtzeitig.

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