Bücher ausleihen ohne sie zurückgeben zu müssen? Wo gibt's denn sowas? - Am Samstag, 21. März, beim Westbesuch auf der Karl-Heine-Straße. Ein kleines historisches Ereignis, mit dem die beiden Leipziger Thomas Schmidt-Lux und Hanjörg Pfettscher auch noch einmal an ein Stück Leipziger Wirtschaftsgeschichte erinnern, als Industriebetriebe in Leipzig sogar noch eigene Gewerkschaftsbibliotheken unterhielten. Mit Marx und Lenin, versteht sich.

Am Samstag, 21. März, öffnet die Gewerkschaftsbibliothek des VEB Chemieanlagenbaukombinat Leipzig-Grimma ein letztes Mal ihre Pforten. Rein symbolisch zwar, wie die beiden Initiatoren der Aktion betonen, aber für eine Ausleihe ohne Rückgabemöglichkeit. Mit dem Titel “Bücher to the People. Rückgabe der Gewerkschaftsbibliothek des VEB Chemieanlagenbaukombinat Leipzig-Grimma an das lesende Volk – Teil 2” haben Thomas Schmidt-Lux und Hanjörg Pfettscher dieses Ereignis überschrieben.

Wie auch Teil 1 der Veranstaltung im Jahre 1998 (der ja nun selbst schon einen historischen Stellenwert hat) steht auch Teil 2 ganz in der “Tradition treuhänderischer Kreativität im Umgang mit der Privatisierung von Volkseigentum. Kritiker hingegen sehen in der Aktion nur einen weiteren neoliberalen Geniestreich zur Enteignung des Volkes. Denn ganz in der Tradition der Treuhand sind die Bücher für die neuen Eigentümer selbstredend gratis, und eine Subvention in Form von Fassbrause gibt es obendrauf.”

Sagen die beiden. Und erinnern daran, wie frisch die Aktivitäten der Treuhand den Leipzigern 1998 noch in Erinnerung waren. Mit den großen Leipziger Industriebetrieben – darunter auch dem VEB Chemieanlagenbaukombinat Leipzig-Grimma – wurde auch alles abgewickelt und in der Regel entsorgt, was man in den 40 Jahren zuvor als “soziale Errungenschaft” den Betrieben regelrecht implementiert hatte: eigene Kulturhäuser und Sportgemeinschaften, Laienspielgruppen oder Gedächtniskabinette oder solche Gewerkschaftsbibliotheken wie der im VEB Chemieanlagenbaukombinat Leipzig-Grimma. Aber wer sich erinnert, weiß, dass 1990 selbst Wagenladungen frisch gedruckter Bücher in die Container wanderten. Mitsamt der alten Ideologie wurde auch tonnenweise die Bücherwelt entsorgt.

“Obwohl Bücher das Tafelsilber des Volkseigentums darstellten, sollte die Bibliothek nach der Auflösung des Kombinates 1990 weggeworfen werden”, rekapitulieren Schmidt-Lux und Pfettscher diesen Vorgang. “Kein Buch ist so schlecht, dass es nicht irgendwie nützte!”

Der VEB Chemieanlagenbau befand sich seinerzeit übrigens mit der Zentralverwaltung in der Leninstraße, der heutigen Prager Straße, in jenem Gebäude, das bis vor wenigen Jahren noch als Technisches Rathaus der Leipziger Stadtverwaltung genutzt wurde.

Hanjörg Pfettscher und Thomas Schmidt-Lux, damals Zivildienstleistende beim Ökolöwen, retteten deshalb große Bestände der Bibliothek und bewahren sie seitdem auf. “Der erste Teil der Rückgabe an das lesende Volk vollzog sich 1998”, erinnern sie an den ersten Teil ihrer großen Rückgabeaktion. Auch damals gab es Fassbrause, und wer mehr als 20 Bücher mitnahm, bekam zur Stärkung eine Bockwurst im Brötchen. Eine lange Warteschlange durch das gesamte Treppenhaus, rein ging’s nur, wenn jemand raus kam. Die Fassbrause war schnell alle, die Bockwürste auch. Die Bücher fanden neue Leser.

Einen kleinen Teil der Bibliothek mit ca. 3.000 Büchern hatten die beiden Leipziger damals aber zurückgehalten und bis heute in 25 Holzkisten eingelagert.

“Nun wollen wir unseren selbst gewählten Auftrag zu Ende führen und auch den letzten noch verbliebenen Kernbestand der Bibliothek dem lesenden Volk zurückgeben. Es sind ja auch volkseigene Bestände”, erklärt Thomas Schmidt-Lux das Vorhaben.

Die Bibliothek öffnet zum letzten Mal am Sonnabend, 21. März, auf dem Westpaket. Zu einer Ausleihe – ohne Rückgabemöglichkeit. Aber mittlerweile hat der Buchbestand ja selbst schon historischen Wert und wäre durchaus auch ein Forschungsprojekt für Leute, die sich dafür interessieren, was in solchen Bibliotheken eigentlich herumstand – und ob die Bücher überhaupt irgendwelche Lesespuren aufweisen. Beim Westpaket kann man’s herausfinden.

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