Ein Ortsteil als Forschungsprojekt? Würde sich eine Uni oder ein Forschungsinstitut das vornehmen, würde man erst mal jede Menge Fördergelder beantragen und irgendwann einen tollen Bericht in Englisch auf einem internationalen Portal veröffentlichen. In Großzschocher läuft das ein bisschen anders. Freiwillig. Und unermüdlich.

Vor zehn Jahren setzte sich ein Dutzend fröhlicher Leute aus Großzschocher, Windorf und Umgebung zusammen. Sie wollten eine Chronik schreiben. Eigentlich die Fortsetzung einer Chronikreihe. Denn in der Vergangenheit haben sich immer wieder Pfarrer aus Großzschocher hingesetzt und aufgeschrieben, was im Dorf so alles passiert ist.

Ganz so sollte es nicht werden, sondern viel bunter, facettenreicher, moderner. L-IZ-Leser erinnern sich. 2005 erschien der reich bebilderte Chronik-Band zu Großzschocher-Windorf. Dem dann ein Ergänzungsband folgte. Und noch einer. Und noch zwei. Und ein Postkartenbuch. Und ein Buch mit heutigen Ortsansichten. Nebenbei setzte sich Werner Franke, der emsig alles sammelte, was er zur Geschichte seines Ortsteils bekommen konnte, hin und entwarf Ortsteilkalender mit historischem Bildmaterial. Und auch die wurden von den Zschocherschen gern gekauft. Mal waren historische Fotos drin, mal Postkartenmotive, mal Aquarelle von Ortsbildmalern.

Man hatte das ganze Jahr etwas an der Wand hängen, was einen anregte, sich zu vergewissern, dass dieses Fleckchen Erde doch was Besonderes ist. Im neuen Kalender für 2016 wird Werner Franke wieder zum Ortstchronisten. Er hat sich diesmal den Baudenkmalen in Großzschocher-Windorf gewidmet. Über 100 Gebäude aus dem Stadtteil sind offiziell auf der sächsischen Denkmalliste verzeichnet. Dreizehn Stück haben es in den Kalender geschafft. Gleich auf dem Aufschlagblatt gemahnt das Bahnhofsgebäude daran, dass auch in Großzschocher mal die Züge hielten. Die preußische Staatsbahn eröffnete die Strecke Plagwitz – Zeitz schon 1873, 1892 gab’s eine erste Personenhaltestelle. 1892 / 1893 wurde das Empfangsgebäude gebaut, das noch heute – still und verschlossen – dicht an der Ellrodtstraße steht, Zeugnis für eine Zeit, als in dem Haus noch Warte- und Diensträume Platz hatten, oben Eisenbahnerwohnungen waren und sogar eine Gastronomie funktionierte. 1899 wurden hier auch 16.000 Tonnen Güter umgeschlagen.

Denn Großzschocher war ja nicht nur so ein Dorf da draußen vor den Toren der Stadt. Hier entstand genauso wie in den anderen Orten im Westen Leipzigs ein Stück Industrie, wurden neue Straßenzüge errichtet. Und in vielen Straßen zeugen die amtlichen Baudenkmale heute noch davon, dass Bauherren damals eine Menge Wert auf Schönheit legten. Das ist alles heute wieder zu sehen, denn auch in Großzschocher wurden viele Baudenkmale saniert und zumeist auch einer neuen Nutzung zugeführt. So wie das Doppelhaus in der Anton-Zickmantel-Straße 8 / 10, in dem sich 1879 das Postamt befand. Man sieht es dem Haus noch an.

Auch der Stadtvilla in der Breitschuhstraße 33, der “Villa Maria”, sieht man noch irgendwie an, dass hier mal eine honorige Person lebte: Der Schuldirektor Alfred Kleine ließ sich die Villa mit Veranda 1901 bauen, zu einer Zeit, als Schuldirektoren noch richtige Honoratioren waren. Man lernt einen Teil der Bauvielfalt kennen, mit der in Großzschocher um 1900 Wohnraum geschaffen wurde für Leute, die es sich leisten konnten, und nicht ganz so reiche. Und mittendrin tauchen immer wieder Gebäude auf, in denen die ortsansässigen Grundbesitzer und Handwerker ihre Bodenständigkeit zeigten – so wie mit dem Wohnhaus in der Dieskaustraße 209, das auf den ersten Blick aussieht, als hätte es als Bauernhaus schon zur Völkerschlachtzeit gestanden. Aber Gottlieb Heinrich Ronniger hat es erst 1866 bauen lassen. Das war noch, bevor das alles auch in Großzschocher losging mit Straßenbahn, Eisenbahn, rauchenden Fabrikschloten.

Eigentlich denkt man, dreizehn Blätter sind nicht viel, um die ganze gründerzeitliche Baukunst zu zeigen. Aber allein diese Blätter genügen, um schon so ein Gefühl dafür zu bekommen, mit welcher Lust die Bauherren im noch nicht eingemeindeten Großzschocher (die Eingemeindung kam erst 1922) zeigen wollten, was in so einer aufstrebenden Gemeinde alles möglich ist, wenn man nur die Traufhöhe einhielt: Erker und Giebel, Türmchen und Ornamente, Säulen und Klinkermuster. Alles da. Wer sich den Kalender hinhängt, bekommt diesmal ein kleines Stück Zschochersche Baugeschichte.

Und darf auch mit den Füßen trappeln. Denn während Leipzig jetzt irgendwie gerade Verschnaufpause hat beim 1.000-Jahre-Feiern, bereitet sich Großzschocher schon so langsam auf seinen 800. Jahrestag der Ersterwähnung vor. Der fällt 2017 justament ins Reformationsjubiläum. Und so richtig klar ist auch noch nicht, was der Ortsteil dann alles auf die Beine stellt. Das Festkomitee aber hat sich schon gegründet, weiß Werner Franke. Aber eigentlich hält ihn und die emsige Chronik-Truppe ein ganz anderes Projekt derzeit in Atem: Das ist das Stadtteillexikon für Großzschocher-Windorf. Stötteritz hat ja schon eines.

Verständlich, dass der herausgebende Pro Leipzig e.V. auch bei den Chronikschreibern von Großzschocher anfragte: Wollt ihr? – Nu ja, war die Antwort. Und dann haben die emsigen Freiwilligen wieder die Aufgaben verteilt und ihre ganze Kraft in die Arbeit für ihr Stadtteillexikon gesteckt. Man darf gespannt sein.

Und wer es nicht bis 2017 aushält, kann beim 798. Kirchweihfest einfach schon mal vorfeiern. Ihr Kirchweihfest haben die Zschocherschen mit Absicht auf den Tag der Ersterwähnung gelegt. So kann man ihn einfach nicht vergessen. Außerdem liegt der 18. August immer schön im Sommer, wo sich stets gut feiern lässt. Erwähnt wurde Großzschocher übrigens erstmals, als Dietrich Markgraf von Meißen das Patronatsrecht der Kirchgemeinde Großzschocher an das Leipziger Thomaskloster übertrug.

Beim 798. Kirchweihfest der Apostelkirche Großzschocher bekommt man übrigens auch wieder den Film „Aus Quellen schöpfen – Die Geschichte unserer Kirchen und Gemeinden in den vergangenen 1.000 Jahren“ zu sehen. Die Schwesterkirchgemeinden Knauthain und Großzschocher haben diesen Film über ihre Kirchen, ihre Gemeinden und ihre Stadtteile gedreht. Sie wollen damit zeigen, „wie Religion und Glaube nicht nur Quelle für den einzelnen Menschen in dieser Stadt sein kann, sondern wie Religion und Glaube wichtige Quelle für das Wachsen und die Vielfalt dieser Stadt waren und sind.“ Und sie wollten damit ihren Beitrag zum 1.000. Geburtstag der Stadt Leipzig bringen.

Gezeigt wird der Film am Sonntag, 23. August, um 14 Uhr in der Apostelkirche.

Das Kirchweihfest im Überblick:

Vom 18. bis 23. August 2015 feiert die evangelische Kirchgemeinde in der Dieskau-/Huttenstraße ihr 798. Kirchweihfest. Traditionell am 18. August lädt die Gemeinde 19 Uhr zu einer Andacht vor der Kirche ein. Sie wird musikalisch begleitet vom Bläserchor.

Rockmusik mit Cello, Geige, Schlagzeug und Gesang steht am Donnerstag, 20. August, 19:30 Uhr, auf dem Programm. Das Konzert in der Apostelkirche wird von der Band „Stilbruch“ gestaltet. Der Eintritt kostet 12 Euro, ermäßigt 8 Euro.

Am Sonntag, 23. August, geht das Kirchweihfest zunächst 10 Uhr mit einem Festgottesdienst weiter. 14 bis 18 Uhr heißt es dann „Blickpunkt Gemeinde“. Das Kirchplatzfest bietet Spiel und Spaß, Informationen, Kreatives, Kirchenführungen und Turmbesteigungen. Auch für das leibliche Wohl wird gesorgt.

In einem Vortrag um 16 Uhr begibt sich Dr. Bernd Bräumer auf „Spurensuche zum berühmtesten spätromantischen Dichter in Mitteldeutschland – Joseph von Eichendorff“.

Kinder ab vier Jahre sind 16:15 Uhr zum Puppenspiel „Prinzessin Isabell und der Kartoffelkönig“ eingeladen. Nach einem Märchen von Ute Grauwinkel spielt das Theater „wiwo“.

Orgelmusik erklingt 17:30 Uhr in der Kirche. An der Orgel musiziert Barbara Kroll-Hiecke. Den musikalischen Abschluss des Festes und Abendsegen gestalten gegen 18 Uhr Nathanael Zahn (Horn), Jonathan Balciunas und Jonathan Zahn (Trompete) und Franz Lehmann (Posaune).

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