Was macht man nur, wenn man nun schon fast alles erzählt hat zur 800-jährigen Geschichte eines Dorfes wie Großzschocher? Und doch noch nicht alles, weil man beim Stöbern immer noch etwas findet? Eigentlich ist kein Leipziger Ortsteil mittlerweile so detailliert beschrieben worden wie Großzschocher-Windorf. Und keiner hat so regelmäßig auch noch einen Jahreskalender.

Treibende Kraft dahinter ist Werner Franke, Betreiber der Herberge „Zur alten Bäckerei“ in Großzschocher und einer der Pioniere jener Interessengemeinschaft „Chronik Großzschocher-Windorf“, die sich 2004 gegründet hat. Natürlich, um eine neue Chronik für den Ortsteil im Leipziger Südwesten zu schreiben und damit die berühmten Chroniken der Pfarrer Schwarze und Schlosser aus der Vergangenheit fortzusetzen. Weil die Pfarrer aber im 18. und 19. Jahrhundert lebten und alles Wichtige aufschrieben, klaffte so eine kleine Lücke zum 19. und 20. Jahrhundert, die erst einmal ausrecherchiert werden sollte.

Na ja.

Was dann 2005 großformatig bei Pro Leipzig erschien, nannten die Autoren dann lieber nicht „Die Chronik“. Dazu hatten sie beim Recherchieren zu oft gemerkt, wie viele spannende Themen noch unbearbeitet waren. Es gab viel mehr Stoff, als in das Buch hineinpasste. Da kam schon so eine Ahnung auf …

Und als sich das Buch dann praktisch über Weihnachten komplett verkaufte, war eigentlich klar: Man macht noch einen Band mit allem, was übrig geblieben war. Was – wie konnte es anders sein  – wieder mehr war, als in ein Buch passte.

Kalender "Großzschocher 1217 - 2017". Foto: Ralf Julke
Kalender „Großzschocher 1217 – 2017“. Foto: Ralf Julke

Am Ende gab es vier große, reich bebilderte Ergänzungsbände zum ersten Band. Plus einen Band mit alten Ansichtskarten. Plus einen Band mit heutigen Fotos aus dem, an einigen Stellen sogar sehr romantischen, Ortsteil. Und mehrfach konnten wir hier vermelden: Nun ist gut. Jetzt ist alles in Büchern untergebracht. In Büchern übrigens, die auf reges Käuferinteresse stießen und bewiesen, dass Ortsteilgeschichte in Leipzig auf regen Zuspruch stößt. Das Dutzend emsiger Hobby-Historiker aber wollte auch nach Band 5 oder 6 nicht auseinander gehen. „Wir treffen uns noch immer regelmäßig einmal im Monat hier“, sagt Werner Franke. Hier heißt: im „Heimatblick“. Das ist das kleine Ortsteilmuseum, das Franke auf dem Gelände der Herberge „Zur Alten Bäckerei“ eingerichtet hat und wo er alles sammelt, was die Zschocherschen aus alten Zeiten so in ihren Familienalben und Bodentruhen finden. Das kleine Museum hat mittlerweile auch die Neugier der großen Politik erweckt: Der Bundestagsabgeordnete Dr. Thomas Feist und der Landtagsabgeordnete Andreas Nowak waren in diesem Jahr da und haben gestaunt. Denn: So etwas gibt es in ganz Leipzig sonst nicht, wenn man von dem kleinen Museum in Althen absieht.

Und es wird sichtbar, was eigentlich Identität bedeutet in einem Leipziger Ortsteil wie diesem, der nur aus City-Sicht „ziemlich weit draußen“ liegt, für die Zschocherschen aber mittendrin. Man weiß dort, wie die eigene Geschichte mit der von Leipzig verknüpft ist. Deswegen wird ja 2017 auch groß gefeiert.

Denn die Ersterwähnung Großzschochers verdankt sich einer auf den 18. August 1217 datierten Urkunde, in der Markgraf Dietrich von Meißen („der Bedrängte“) die Dörfer Gautzsch und Großzschocher dem von ihm gegründeten Thomaskloster übertrug. Die Mönche bekamen jetzt ein paar Einkünfte, mit denen sie wirtschaften konnten, und die Zschocherschen bekamen neue Patrone. Und das kleine slawische Dorf (das es wohl auch schon 400 Jahre früher an der Stelle gab) ging endlich in die Geschichte ein.

So dass Großzschocher-Windorf 2017 das 800. Jahr seiner Ersterwähnung feiert.

Aber wer feiert da, wenn es keinen Dorfschulzen mehr gibt, keinen Heimatverein oder auch nur einen eigenen Ortsteilbeirat? Das Wesentliche wird sich um die Apostelkirchgemeinde abspielen. Auch wenn man sich dort händeringend verwahrt, den ganzen Ortsteil repräsentieren zu wollen. Also kein Trachtenumzug mit Blaskapelle. Selbst Werner Franke – der auch im Kirchenvorstand mitarbeitet – sagt: „Gott bewahre.“

Das würde auch die Gemeinde überfordern. Deswegen wird sich das 800-jährige vor allem im Veranstaltungskalender der Kirche widerspiegeln mit unterschiedlichen Angeboten in jedem Monat. Höhepunkt wird natürlich das Kirchweihfest am 18. August, das 800te. Zu dem Werner Franke – wie könnte es anders sein? – auch eine von drei Ausstellungen vorbereitet: die Geschichte der Apostelkirche in Bildern – in der Apostelgeschichte zu sehen. (Zwei andere Ausstellungen bereitet er für Körnerhaus und Schule vor.)

Aber eigentlich geht für Großzschocher die große Party schon im Dezember los. Denn dann soll – ja, so ist es wirklich – das nächste Großzschocher-Buch fertig sein. Denn Pro Leipzig hat ja mittlerweile eine neue Serie angefangen: Ortsteillexika. Eine Idee, die man im vergangenen Jahr erstmals für Stötteritz umgesetzt hat. Und sie funktionierte. Erstmals konnte so ein alter Leipziger Stadtteil, der selbst mal ein Dorf mit reicher Geschichte war, in einem eigenen Lexikon mit 180 Stichworten gefasst werden. Mittlerweile gibt es auch ein Ortsteillexikon für die Südvorstadt. Für Connewitz ist eines in Vorbereitung. Und Werner Franke ist sich sicher, dass die IG „Chronik Großzschocher-Windorf“ es schaffen wird, das Ortsteillexikon auch für Großzschocher bis Dezember fertig zu bekommen. (Auf dem Foto sieht man das Cover schon einmal im Hintergrund an der Wand.)

Schützenhilfe hat man diesmal von Michael Liebmann bekommen, der die Leipziger Stadtgeschichte schon mit eindrucksvollen Büchern zum Brandvorwerk und zu Connewitz bereichert hat.

Ahnt die heutige Obrigkeit, die solche Projekte gar nicht finanziert, wie viel Fleiß und Ehrenamt in solchen Projekten steckt, die die Stadt um etwas bereichern, was man für gewöhnlich vergeblich sucht: Identität? Wissen um die eigene Geschichte? Nicht nur die irgendwelcher Könige und Herrscher?

Natürlich soll dieses neue Werk zur Großzschocherschen Geschichte in der Apostelkirche vorgestellt werden. Der Termin steht noch nicht fest. Aber der Stoff ist geliefert. „Und es werden einige Sachen drinstehen, die wir bisher selbst noch nicht gewusst haben“, sagt Franke. Und das will was heißen nach zwölf Jahren emsiger Arbeit.

So ganz nebenbei arbeitet er mit Helmut Bayer an einem Werk, dass das 800-jährige Jubiläum für Neugierige auch erlebbar machen soll: einer Dia-Show mit Bildern und Texten aus der Geschichte Großzschochers. „Höchstens anderthalb Stunden lang“, sagt Franke. Aber wenn man so die ersten Ergebnisse sieht, hält man schon die Luft an: Wie packt man 800 Jahre in anderthalb Stunden? Die beiden stecken gerade im 19. Jahrhundert und der Bilder und der Geschichte, die für den Ortsteil prägend sind bis heute, werden immer mehr.

Man kann gespannt sein. Den Vortrag soll es mindestens zwei, drei Mal im Jubiläumsjahr in der Apostelkirche zu sehen geben, wahrscheinlich auch für die richtig Neugierigen noch mehrmals im „Heimatblick“.

Und wie merkt man sich das, wenn es so weit ist? Man schreibt es sich in den Kalender, den Werner Franke jedes Jahr in Eigenregie produziert für seinen Ortsteil, immer zwölf schlanke Monatsseiten mit einem anheimelnden Motiv aus seiner reichen Bildersammlung. Oft thematisch ausgewählt.

Aber darauf verzichtet Franke im Jubiläumsjahr. Es sollte einfach ein richtiger Jubiläumskalender werden mit den zwölf schönsten historischen Ortsansichten. Und als Dreingabe die Schenkungsurkunde vom bedrängten Dietrich, der sich damals noch Markgraf der Ostmark nannte. In einer neuen, überhaupt nicht trockenen Übersetzung. Wann spricht ein bedrängter Markgraf schon mal von den „Machenschaften Böswilliger“, die „unsere Vorhaben und Werke“ in „widerwärtiger Weise“ schädigen könnten? Das klingt ja ziemlich heutig und deutlich.

Den Kalender bekommt man vor allem in Großzschocher in den einschlägig bekannten Verkaufsstellen und in der Herberge „Zur Alten Bäckerei“ für 8 Euro. Und drin findet man auf jeden Fall das alte Schloss, die Kirche, die Schule und Körner, der 1813 in Großzschocher landete nach seiner Verwundung und heute Teil der Zschocherschen Erinnerung ist. War er einen Tag da? Oder acht, wie einst „Die Gartenlaube“ berichtete? Auf jeden Fall war er da. Und das ist schon mehr, als andere Ortsteile von sich sagen können.

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