"Die eigentliche Auseinandersetzung sollte in der Gegenwart stattfinden." Das finden Leipziger und Olsztyner Schauspielstudenten. Nach Erlebnisberichten Leipziger Holocaust-Überlebender und behördlichem Schriftverkehr stellten sie den Alltag und die Verfolgung der jüdischen Bürger Leipzigs zwischen 1933 und 1945 szenisch nach. Ein Premierenbericht.

Riebeckstraße? Riebeckstraße. Riebeckstraße! So hallt es durch einen großen Raum der Halle 18 der Leipziger Baumwollspinnerei. Mal ganz laut. Mal ganz leise, aber kalt. Mal im klarsten Hochdeutsch. Mal mit einer Lautbildung, wie es in der polnischen Muttersprache üblich ist.

Mit der “Grünen Minna” in die Riebeckstraße. Mit dem Wagen des polizeilichen Überfallkommandos ab in das Städtische Arbeitshaus in der Riebeckstraße 63. In den Backsteinbau mit der hohen Mauer drumherum und dem heiligen Drachentöter Georg über dem Haupteingang zur Zwangsarbeit. Anschließend mit hoher Wahrscheinlichkeit Deportation und Tod in den Vernichtungslagern. Oder aber Zwangssterilisierung, Psychiatrisierung und Ermordung im Rahmen des NS-Euthanasieprogramms.

Der Weg in die Riebeckstraße ist eine der Szenen des “Alltags und der Verfolgung der jüdischen Bürger Leipzigs 1933-1945”. Genau darum geht es in der szenischen Präsentation “LeipzigÜberLeben”, die am 7. Dezember 2012 Premiere hatte.

Es ist szenisches Sprechtheater in deutsch und polnisch. Und teils in englisch, der eigentlichen lingua franca des modernen Europa.”LeipzigÜberLeben” ist das Ergebnis einer knappen Woche gemeinsamer Arbeit von Schauspielstudenten aus Leipzig und dem nordostpolnischen Olsztyn (damals Allenstein). Es handelt von der Ausgrenzung, Verfolgung und weitgehenden Vernichtung der jüdischen Gemeinden in der damaligen “Reichsmessestadt” und dem damaligen Allenstein in Ostpreußen während der NS-Zeit. Grundlage sind Erinnerungsberichte der Überlebenden des Holocaust und Schriftgut aus deutschen Amtsstuben jener Jahre.

Nur noch knapp 2.300 Juden würden in Leipzig leben, heißt es triumphierend in einem dieser amtlichen Schreiben aus dem Juli 1940. Ein reichliches Jahr zuvor seien es noch 6.000 gewesen, in den frühen 1930er Jahren noch 14.000 bis 16.000, wie der behördliche Schreiberling festhielt. Nun gelte es, den Abtransport der verbliebenen jüdischen Leipziger zu organisieren und bei der Aufteilung der alsbald leer stehenden Gebäude auch die Interessen staatlicher Stellen zu berücksichtigen.

Die Monate in Buchenwald seien nicht das Schlimmste gewesen, zitiert einer der Schauspielstudenten einen ehemaligen Leipziger. Sondern, dass die Nachbarn plötzlich das Braunhemd der SA anzogen.

Ja, die Nachbarn. Sie bestellten beispielsweise beim Bäcker die Brötchen ab, die allmorgendlich an der Wohnungstür einer Familie im Waldstraßenviertel hingen. “Juden brauchen keine Brötchen”, so die Rechtfertigung.Juden brauchten auch keinen Zugang mehr zu öffentlichen Schulen, den gutbürgerlichen Sportvereinen, den öffentlichen Bädern, den Parkbänken im Rosental, den Straßenbahnen, ihren Unternehmen und Wohnungen. So sind in den Amtsstuben die Schritte der Ausgrenzung und Entrechtung penibel festgehalten worden. Dabei berief man sich augenscheinlich immer wieder auf das deutsche “Volksempfinden”, das mit Nachbarschaft, Nähe, gar Miteinander mit Juden nach der damals herrschenden Rassenlehre unvereinbar gewesen sei.

“Es geht vor allem um Menschen”, benennen die Schauspielstudenten aus Leipzig und Olsztyn ihren Zugang zu der Thematik. “Kein Schweinefleisch und keine Weihnachten” sind für sie die einzigen Unterschiede zwischen Juden auf der einen und Christen und atheistischen Europäern auf der anderen Seite.

“Wir sind nicht die Täter” – das dürfen sowohl die jungen Polen, als auch die jungen Deutschen als Angehörige der dritten Generation nach NS-Diktatur, Holocaust und Krieg für sich in Anspruch nehmen. Gleichwohl spüren sie eine “Verantwortung für Nicht-Vergessene und Nicht-Wiederholen”. Deshalb ihr Theaterprojekt. “Die eigentliche Auseinandersetzung sollte in der Gegenwart stattfinden.””Erinnerung steht immer in einem historischen Kontext”, unterstrich Tomasz D?browski, Direktor des Polnischen Instituts in Leipzig, nach der Premiere. Wenn Deutsche und Polen sich gemeinsam der Geschichte näherten, schwängen immer noch ganz unterschiedliche Resonanzböden mit.

D?browski erinnerte an die im Stück gleichfalls thematisierte, zwangsweise Abschiebung jüdischer Leipziger mit polnischem Pass im Rahmen der so genannten “Polen-Aktion” Ende Oktober 1938. Der damalige polnische Generalkonsul in Leipzig gab zahlreiche Pässe aus, um Juden die Ausreise aus Deutschland zu ermöglichen.

“Was würde geschehen, wenn anlässlich der Veranstaltung eine Horde Neonazis vor der Tür stünde”, kleidete Professor Frank Zöllner, Dekan der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig, seine Gedanken nach der Premiere in eine Frage. Wir wüssten nicht, ob wir uns hinreichend mutig verhalten würden, so Zöllner weiter.

Der Bezug zur Geschichte, betonte Zöllner, habe “immer auch etwas Gegenwärtiges”. Das Gegenwärtige besteht nach Zöllner darin, “unsere eigene Courage einzufordern und die Courage des Staates einzufordern, uns besser zu verteidigen, als es in den 1930 Jahren geschehen”.

Grundrechtsgewährung und tatsächlicher Verfassungsschutz sind zwei Themen, die einem dazu in diesen Tagen sofort einfallen.

Noch etwas Gegenwärtiges zur Riebeckstraße 63. In dem ehemaligen Arbeitshaus mit Mauer sollte in diesem Herbst eine städtische Großunterkunft für Asylbewerber mit insgesamt 115 Plätzen öffnen. Menschen, die Asyl suchen, weil sie in ihrer Heimat nicht sicher leben können.

Die Fertigstellung der Großunterkunft verzögert sich, wie zu lesen war.

LeipzigÜberLeben. Alltag und Verfolgung der jüdischen Bürger Leipzigs 1933-1945. Szenisches Re-enactment. Ein gemeinsames Projekt des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig, Schauspielschule des Stefan-Jaracz-Theaters Olsztyn sowie der Stiftung Borussia Olsztyn. Das Projekt steht unter der Schirmherrschaft von Küf Kaufmann, Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig.

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