Die Leipziger haben wieder einen vollständigen „Ring des Nibelungen“. Bei der Premiere der „Götterdämmerung“ am Samstag ernteten die Sänger und Generalmusikdirektor Ulf Schirmer stehende Ovationen. Die Inszenierung von Regisseurin Rosamund Gilmore rief beim Publikum allerdings gemischte Reaktionen hervor.

Selten zuvor war das Leipziger Publikum so tief gespalten wie nach dem Finale der Ring-Tetralogie. Die Sängerriege, angeführt von den Rollendebütanten Thomas Mohr (Siegfried) und Christiane Libor (Brünnhilde), durfte sich nach starken Leistungen zu Recht von den Leipziger Wagnerianern feiern lassen. Das Dirigat von Hausherr Ulf Schirmer sorgte bei den Zuhörern im ausverkauften Haus für helle Begeisterung. Unter Leitung des Intendanten und Generalmusikdirektors präsentierte sich das exzellent disponierte Gewandhausorchester in Höchstform. Viele der langjährigen Profimusiker spielten am Samstag ihre erste „Götterdämmerung“ vor großem Publikum. In Leipzig hatte der Klassiker 40 Jahre lang nicht auf dem Spielplan gestanden.

Die lange Durststrecke trug zur hohen Erwartungshaltung vieler Zuschauer an diese Ring-Produktion bei, die Schirmer vor sechs Jahren ins Rollen brachte. Seit 2013 studierte Gilmore mit dem Opernensemble und Gästen die Tetralogie zyklisch ein. Wie schon die ersten drei Ring-Opern stieß die „Götterdämmerung“ bei den Premierengästen auf geteilte Reaktionen. Beim Schlussapplaus mischten sich nach sechseinhalb Stunden Buhs und Bravos. Womöglich hatten nicht alle Zuschauer in diesem Moment den kompletten Zyklus vor Augen.

Die Engländerin, deren Wurzeln im Tanztheater liegen, bettet ihren Ring in einen Zeitraum von etwa einhundert Jahren ein, der in Nicola Reicherts farbenprächtigen Kostümen und Friedrich Oberles monumentalen Bühnenbauten sichtbar wird. Lässt sich „Das Rheingold“ in der Mitte des 19. Jahrhunderts verorten, als in Richard Wagner erste Ideen zur musikalischen Bearbeitung der Nibelungensage heranreifen, spiegelt sich in der namenlosen Halle mit ihren kantigen Formen, endlos hohen Säulen und dem riesigen Fensterpanorama im Hintergrund, in der Gilmore ihre „Götterdämmerung“ verortet, jener Neoklassizismus wieder, der kennzeichnend für die nationalsozialistische Architektur in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts gewesen ist.

Wagners „Götterdämmerung“ wieder szenisch im Opernhaus zu erleben. Foto: Tom Schulze
Wagners „Götterdämmerung“ wieder szenisch im Opernhaus zu erleben. Foto: Tom Schulze

Gilmore vermeidet allerdings eindeutige Deutungen. Die doppelreihigen Armeemäntel, in denen Gunthers Soldaten im zweiten Akt aufmarschieren, wecken in ihren Schlachtgesängen („Heil, Gunther“) dunkle Erinnerungen an Himmlers SS-Schergen. Bereits im „Rheingold“ und später im „Siegfried“ kreierte die Regisseurin Bilder, die mittelbar Assoziationen mit antisemitischen Ideologien zuließen. Fasolt und Fafner stapelten im „Rheingold“ kistenweise den Nibelungenschatz. Im „Siegfried“ erschien der zum Drachen verwandelte Fafner in Gestalt des amerikanischen Kapitalisten mit Zigarre und Zylinder, der im wahrsten Wortsinne auf Gold sitzt, schließlich aber von dem Helden Siegfried erschlagen wird.

In der „Götterdämmerung“ stirbt Siegfried nicht den Heldentod. Wotans Abkömmling fällt einer Intrige Brünnhildes und Gunthers (Tuomas Pursio) zum Opfer. Dessen Halbbruder Hagen (Runi Brattaberg), nicht minder faschistisch gesinnt, erschlägt Siegfried hinterrücks an seiner einzigen verwundbaren Stelle. Anders als in Wagners Partitur feiert Gilmore nicht den Heldentod. Brünnhildes Pferd Grane, verkörpert durch einen Tänzer (Ziv Frenkel), schleppt den Leichnam einsam durch Nebelschwaden, während aus dem Orchestergraben der weltbekannte Trauermarsch – eines der musikalischen Highlights des Werks – in Schirmers markerschütternder, kraftvoller Deutung den Saal vereinnahmt. Die großartige Schlüsselszene dieser Ring-Inszenierung.

Keine Bahre, sondern ein schnöder Klavierflügel dient im Grande Finale als Ablage für die Leiche des gestürzten Helden. Hagen erdolcht Gunther. Brünnhilde zelebriert ihren Suizid. Die Rheintöchter (Magdalena Hinterdobler, Sandra Maxheimer, Sandra Janke) erlangen den Ring zurück, den ihnen Hagens Vater Alberich einst raubte. Hagen stürzt sich in den Rhein, Walhalls Götter starren ratlos Löcher in die Luft, die riesige Halle fällt in sich zusammen.

Ein schnöder Klavierflügel dient im Grande Finale als Ablage für die Leiche des gestürzten Helden. Foto: Tom Schulze
Ein schnöder Klavierflügel dient im Grande Finale als Ablage für die Leiche des gestürzten Helden. Foto: Tom Schulze

Gilmores „Götterdämmerung“ ist kein Abend der vielen Bilder. Anders als im Bayreuther Castorf-Ring kann der Zuschauer zumindest während des ersten Akts an den musikalisch schönsten Stellen zum Genießen die Augen schließen, ohne auf der Bühne etwas zu verpassen. Die Figuren begegnen sich durch die Bank weg mit größtmöglichster Distanz. Echte Nähe kommt zwischen den Handelnden nicht auf. Erst Kathrin Görings spielerisch und gesanglich herausragender Kurzauftritt als Waltraute sorgt nach knapp zwei Stunden für ein wenig Spannung. Nicht minder intensiv ist Jürgen Linns Alberich, der Hagen im dritten Akt von der Notwendigkeit überzeugt, den Ring zurückzuerlangen.

In den großen Partien glänzt vor allem Christiane Libor (Brünnhilde), während Thomas Mohr (Siegfried) leichte Unsicherheiten zeigt. Marika Schönberg (Gutrune), Tuomas Pursio (Gunther) und Runi Brattaberg (Hagen) singen grundsolide, aber keinesfalls herausragend. Die formidablen Kurzauftritte von Karin Lovelius (1. Norn), Olena Tokar (3. Norn), Magdalena Hinterdobler (Woglinde), Sandra Maxheimer (Wellgunde) und Sandra Janke (Flosshilde) dokumentieren die Leistungsfähigkeit des Leipziger Sängerensembles.

Ab Donnerstag steht der komplette Ring erstmals zyklisch auf dem Spielplan. Für die beiden Aufführungen in dieser Spielzeit (5. – 8. Mai, 28. Juni – 3. Juli) sind noch Restkarten erhältlich.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar