Nein, diesmal geht es nicht um den braven Dr. Moritz Schreber, den die meisten Leute für den Gründer der deutschen Kleingartenbewegung halten, wenn am 29. und 30. Juli das Tanzkollektiv „urban collectiv“ zur Tanzperformance in den Kleingartenverein Dr. Schreber einlädt. Eher um den Vater und Orthopäden, der posthum ja dann zum Fall für einen gewissen Dr. Sigmund Freud und andere wurde.

Benannt sind ja die Schrebergärten wirklich nach Daniel Gottlob Moritz Schreber (1808-1861). Gesorgt hat dafür sein Freund, der Pädagoge Ernst Innozenz Hauschild, der die Idee von Moritz Schreber, Spiel- und Sportplätze für Stadtkinder außerhalb der engen Wohnquartiere anzulegen, prima fand und 1864 den ersten „Schreberverein“ gründete und mithalf, in der Westvorstadt den ersten Schreberplatz anzulegen.

Wer sich mit Moritz Schreber und seinem lebenslangen Versuch, das Leben der Stadtkinder zu verbessern, beschäftigt, der kommt natürlich an den Punkt zu fragen: Ist Schreber wirklich das exemplarische Beispiel für „schwarze Erziehung“, weil seine Söhne psychisch erkrankten? Oder ist da ein Mediziner deutlich übers Ziel hinausgeschossen?

Aber genau mit Schrebers Beiträgen zur Volksgesundung beschäftigt sich die Tanzperformance von „urban collectiv“.

„Mit den heute zumindest skurril erscheinenden medizinischen Methoden setzt sich das Tanzkollektiv urban collective in einer künstlerischen Performance auseinander und lädt das Publikum ein, einem Rundgang durch die Leipziger Kleingärten zu folgen“, beschreibt das 2015 entstandene Leipziger Tanzensemble den Kern seiner Performance im Grünen. Es drängt sich ja geradezu auf: die sommerliche Pracht der historisch rekonstruierten Kleingärten an der Aachener Straße zu konfrontieren mit einem Schreber-Bild, das nun irgendwie schon das dritte oder vierte ist. Die Schichten überlagern sich.

Denn tatsächlich steckt hinter dem Anliegen von Moritz Schreber zur Volksgesundung der Beginn einer ganzen medizinischen Disziplin, was jüngst erst Dr. Susanne Hahn in ihrem Buch „Leipzig und seine Orthopädie“ sehr anschaulich schilderte. Dass viele der damals von Ärzten wie Schreber entwickelten Methoden und Instrumente heute nur noch martialisch anmuten, liegt natürlich an der Entwicklung der Orthopädie bis heute. Es sind orthopädische Methoden im Gefolge von Schreber, die heute dafür sorgen, dass Körperfehlhaltungen schon bei Kindern korrigiert werden. Zu Schrebers Zeit waren solche Misshaltungen selbst bei Erwachsenen eine Alltagserscheinung.

Natürlich steckte hinter Schrebers Versuchen, die jungen Patienten zu korrigieren, eine Vision. Genauso wie in der Idee von Luft und Licht und körperlicher Betätigung für Arbeiterkinder, die einst in engen Wohnquartieren eingesperrt waren.

„urban collective“ geht mit dieser Vision sehr spielerisch – aber auch sehr kritisch –  um.

In der Tanzperfomance „Schrebers Visionen“ folgt das Publikum den Darstellern in verschiedene Gartenparzellen. Hier werden Aspekte aus Schrebers Leben, seine Philosophie und zeitgemäße Entwicklungen tänzerisch, gesanglich und musikalisch dargeboten. Natürlich kommt man auch zu der derzeit gültigen Interpretation der Fallgeschichte von Daniel Paul Schreber und unterstellt, dass die Erziehungspraktiken Schrebers auf das Leben seines Sohnes Daniel Paul Schreber fatale Auswirkungen hatten.

Dabei hat Daniel Paul Schreber seine Lebensgeschichte sogar selbst aufgeschrieben in dem Buch „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“. Dass die väterlichen Korrekturapparate eine Rolle bei der Grundierung dieser psychischen Erkrankung gespielt haben könnten, war freilich erst Mitte des 20. Jahrhunderts Thema einer heftigen wissenschaftlichen Kontroverse. Der übrigens nicht viel folgte. Das Thema klemmt seit ungefähr 60 Jahren, vielleicht auch, weil es leichter ist, von „schwarzer Pädagogik“ zu reden, aber deutlich schwerer darüber, was überhaupt diverse gesellschaftliche Korrektionsapparate eigentlich alles anrichten im Menschen. Und die Schreberschen orthopädischen Geräte sind ja nun wirklich nur ein Teil des Instrumentariums, mit dem Menschen „verbessert“ werden sollen.  Das hat ja im 20. und 21. Jahrhundert nicht aufgehört. Im Gegenteil.

Dabei schwingt in der Tanzperformance auch noch die alte Freudsche Interpretation mit, der ja eine Menge psychischer Probleme auf die unterdrückte Sexualität schob. Auch im Fall Daniel Paul Schreber.

Und so erscheinen die Kostüme der Tänzer zunächst „normal“, offenbaren sich dann allerdings als sehr freizügig. Die scheinbar heimelige Idylle bricht langsam auf. So thematisieren die TänzerInnen in einem naturbelassenen Garten die von Schreber verbotene Masturbation und von ihm entwickelte Maßnahmen gegen ebenjene. Gleichzeitig tauchen immer wieder die Schreberschen orthopädischen Apparaturen zur „gleichmäßigen Förderung normaler Körperbildung“ (Moritz Schreber 1858) im Gartenflair auf.

Inszeniert in der beschaulichen Kleingartenkulisse, gehen „urban collective“ und Gäste gesellschaftlichen Abgründen nach und setzen sich mit Veränderung und Kontinuität traditioneller Werte und Normen auseinander. Sie tun also das, was die Schreber-Diskussion selbst nicht mehr geleistet hat. Denn Leute, die versuchen, ihre Kinder und Mitmenschen in Korsetts zu zwängen und ihre Freizügigkeit zu beschneiden, gibt es ja noch immer. Sie tauchen heute gern mit lautem Trara aus den Provinzen unserer Gesellschaft auf und prangern die Gefahren einer offenen Gesellschaft an.

Zum Tanzkollektiv urban collective (Leipzig) gehören die TänzerInnen Ramona Lübke, Claire Wolff, Anja Dietzmann und Ronny Hoffmann.

Das Projekt wird unterstützt von der Stadt Leipzig, dem Deutschen Kleingärtnermuseum e.V., dem culturtraeger, dem Leipziger Netzwerk Stadtnatur, dem Leipziger Gartenprogramm, dem Sächsischen Psychiatriemuseum und dem Leipziger Tanztheater.

Die Open-Air-Tanzperformance „Schrebers Visionen“ ist am 29. und 30. Juli jeweils um 20:30 Uhr im Kleingartenverein Dr. Schreber in der Aachener Straße 7 zu erleben. Treffpunkt ist am Eingang des Kleingärtnermuseums. Weitere Aufführungen gibt es am 20. und 21. August jeweils 20:00 Uhr.

Karten: 12 Euro/8 Euro ermäßigt; erhältlich beim Kleingärtnermuseum (Aachener Straße 7, 04109 Leipzig, Reservierungen unter Tel. (03 41) 2 11 11 94.

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