Am Mittwoch hat vor dem Schöffengericht der Prozess gegen einen Mann begonnen, der sich am 5. Juni 2015 an den schweren Krawallen in der Karl-Tauchnitz-Straße und am Bundesverwaltungsgericht beteiligt haben soll. Die Staatsanwaltschaft hat den 37-Jährigen wegen Landfriedensbruchs im besonders schweren Fall und gefährlicher Körperverletzung in vier Fällen angeklagt. Bei den Krawallen entstand über 41.000 Euro Sachschaden.

Lars S. inszeniert sich bei Gericht nicht, wie man sich den typischen Bilderbuchautonomen vorstellt. Statt schwarzem Kapuzenpulli trägt der Leipziger blaue Carhartt-Jeans und Karo-Hemd. Auf die Frage des Vorsitzenden, ob er sich zur Anklage äußern wolle, erwiderte sein Verteidiger Daniel Werner, er habe seinem Mandanten zum Schweigen geraten.

Das äußere Tatgeschehen ist in diesem Prozess weitestgehend unstrittig. Gegen 22 Uhr bewegten sich insgesamt mindestens 100 Personen, die meisten schwarzvermummt, aus dem Johannapark auf die Karl-Tauchnitz-Straße. Dort zündeten sie erhebliche Mengen an Pyrotechnik, die sie auch auf anrückende Polizeikräfte abfeuerten. Die Randalierer bewarfen Einsatzkräfte mit Pflastersteinen, Molotowcocktails und Farbbeuteln. Sie entglasten eine Straßenbahnhaltestelle, streuten auf der Fahrbahn Krähenfüße aus und demolierten ein Polizeifahrzeug. „Leipzig ist nicht unbekannt für solche Aktionen der linken Szene, aber die waren schon besonders“, erinnerte sich Außendienstleiter Thomas G. (41), der den Einsatz in jener Nacht leitete. „Die Ausschreitungen waren sehr heftig.“

Als Beamte einer Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE), die zuerst am Ort des Geschehens eintraf, scheinbar zum Gegenangriff übergingen, indem sie auf die Gruppe losstürmten, flüchteten die meisten Beteiligten Richtung Bundesverwaltungsgericht. Einzelne Täter beschädigten mit Steinen und Farbbeuteln die Fassade des Gerichtsgebäudes. Auf einer Wiese nahe des Gerichts konnten zwei BFE-Mitglieder den Angeklagten zu Boden bringen und vorläufig festnehmen. Ein Polizeivideo dokumentiert den Zugriff. Lars S. soll während der Festnahme, so die Darstellung der Verteidigung, im Gesicht verletzt worden sein. Leichte Verletzungen erlitten auch vier Polizeibeamte, die sich den Randalierern mutig entgegenstellten.

Ein Besucher des Johannaparks sagte am Mittwoch aus, er habe wahrgenommen, wie sich vor den Krawallen auffällig viele Personen rund um die Lutherkirche ansammelten. „So gut wie alle hatten einen Rucksack oder Beutel dabei“, erzählte Florian M. (28). Als die überwiegend jungen Frauen und Männer plötzlich im Gebüsch verschwanden, um sich schwarze Klamotten anzuziehen, alarmierte der Zeuge die Polizei. Der Angestellte nahm an, die Unbekannten könnten eine Graffiti-Aktion planen. Die Polizei rechnete zwar mit einer Spontandemo. Der Gewaltexzess schockierte jedoch selbst gestandene Beamte.

„Wir sind sofort angegriffen worden“, berichtete Zugführer Heiko U. (43). Seine Beamten hätten in Anbetracht der Dynamik des Geschehens keine Gelegenheit gehabt, die Randalierer zunächst über die Außensprechanlage ihres Einsatzfahrzeugs anzusprechen. An die Ermittlung eines Ansprechpartners unter den Schwarzgekleideten, der den Aufzug vor Ort hätte anmelden können, sei aufgrund der verübten Straftaten ohnehin nicht zu denken gewesen. Die 14 BFE-Polizisten konnten durch ihr schnelles Eingreifen immerhin verhindern, dass sich die Randalierer in Richtung des gleichzeitig stattfindenden Stadtfestes bewegten.

Für eine Verurteilung bedarf es im Fall Lars S. keines Nachweises, der Angeklagte habe selbst einen Stein geworfen. Beim Landfriedensbruch handelt es sich um ein Gruppendelikt. Wer sich aus einer randalierenden Ansammlung nicht distanzierend entfernt, macht sich strafbar. Die Körperverletzungen sind von der Staatsanwaltschaft ebenfalls als gemeinschaftlich begangene Handlungen angeklagt worden, so dass es auch hier keines konkreten Tatnachweises bedarf, um zu einer Verurteilung zu gelangen.

Vor diesem Hintergrund schaut die Beweislage für den Angeklagten nicht wirklich rosig aus. Umso überraschender, dass Werner dennoch auf Freispruch verteidigt. Hätte Richter Klaus Hüner gewusst, wer da neben dem Angeklagten Platz nehmen wird, hätte der Vorsitzende für den Vormittag vermutlich gar keine Zeugen geladen. Denn der Connewitzer Jurist gilt als Spezialist für Konfliktverteidigungen. Schon vor Einvernahme des ersten Zeugen muss das Schöffengericht über drei aufeinander aufbauende Anträge des Verteidigers entscheiden. Die Liste der Beweismittel sei unvollständig. Das Verfahren sei daher für eine Woche auszusetzen. Und die Einführung ausgewählter Schriftstücke im Selbstleseverfahren weiche den Mündlichkeitsgrundsatz auf. Das Gericht wird sich auf weitere solcher Kraftproben einstellen müssen.

Inhaltlich scheint Werner den Nachweis führen zu wollen, bei der Ansammlung habe es sich zunächst um eine zulässige Spontandemonstration gehandelt. Dafür spricht, dass die Gruppierung ein politisches Transparent mit sich führte. Allerdings betonte Heiko U., dass die „Demonstrierenden“ unmittelbar bei Betreten der Karl-Tauchnitz-Straße Pyrotechnik entzündeten. Und überhaupt muss die Frage erlaubt sein, ob man sich gezielt umzieht, möchte man lediglich friedlich gegen den G7-Gipfel demonstrieren? Zugute kommt der Verteidigung, dass ausgerechnet jene Pflastersteine, die der Angeklagte in einer Tasche mit sich geführt haben soll, spurlos verschwunden sind.

Doch selbst wenn man Werners Linie folgen möchte, fällt es schwer, sich von dem Rechtsanwalt überzeugen zu lassen. Warum sollte ein friedlicher Demonstrant, der völlig unbeabsichtigt in die schwersten Krawalle, die die linke Szene seit Jahren in Leipzig angezettelt hatte, bei Gericht schweigen? Immerhin droht ihm bei einer Verurteilung eine Freiheitsstrafe, die womöglich nicht zur Bewährung ausgesetzt wird. Wo bleibt die glaubhafte Distanzierung von den Krawallen, die sich mindestens strafmildernd auswirken würde und wunderbar in jenes Bild passen würde, das die Verteidigung sich offensichtlich zurecht puzzeln möchte?

Oder darf Lars S. sich nicht von den Ausschreitungen distanzieren, weil ihm die linksextreme „Rote Hilfe“ in dem Fall die finanzielle Unterstützung entziehen würde? Die Rechtshilfeorganisation macht ihre finanzielle Unterstützung von der konsequenten Wahrnehmung des Aussageverweigerungsrechts abhängig. Vergangenes Wochenende erschien auf dem Szeneportal „Indymedia Linksunten“ zu allem Überfluss ein Aufruf zur Prozessbegleitung, der sogleich Eingang in die Gerichtsakte fand. Dass der Termin zu jenem Zeitpunkt nur den Beteiligten und der Presse bekannt gewesen ist, spricht stark dafür, dass der Text aus dem Umfeld des mutmaßlichen Steinewerfers stammen könnte. Sollte Werner nicht das Kunststück gelingen, die Glaubwürdigkeit jener Polizisten in ihren Grundfesten zu erschüttern, die die Steine in dem Stoffbeutel seines Mandanten wahrgenommen haben, erscheint ein vergleichsweise hartes Urteil schon zu diesem Zeitpunkt des Prozesses unausweichlich.

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