Es wurde zwar in den letzten Monaten auch im Stadtrat wie wild über die unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (umA) debattiert, die auch Leipzig unterbringen muss. Aber das sind nicht wirklich Leipzigs brennende Probleme. Die brennen ganz woanders, was der Blick auf die aus dem Rahmen brechenden Kosten für die „Hilfe zur Erziehung“ zeigt.

Da stecken die minderjährigen unbegleiteten Asylsuchenden zwar mit drin. Das hat die Stadt auch mit einkalkuliert und dafür 2,7 Millionen Euro eingeplant im Jahr 2016. Aber diese Kosten wird die Stadt wohl unterschreiten. Am Ende werden es wohl nur 2,1 Millionen Euro.

Und trotzdem braucht es jetzt einen deftigen Nachschlag bei „Hilfen zur Erziehung“ – 16 Millionen Euro, mit denen die Stadt überhaupt nicht gerechnet hat, obwohl die Fallzahlen seit Jahren steigen. Was vor allem mit der manifesten Armut in Leipzig zu tun hat, die mit Einführung von „Hartz IV“ 2005 keineswegs abgeschmolzen ist. Im Gegenteil: Trotz wachsender Erwerbstätigenzahl und einem rapiden Rückgang der Arbeitslosigkeit blieb der Armutssockel in Leipzig mit 24 Prozent sehr stabil, wächst ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen in armen Verhältnissen auf.

Und entsprechend ratlos schaut die Stadt auf die überdurchschnittlich stark ansteigenden Fallzahlen bei den „Hilfen zur Erziehung“.

Selbst 2014, als man die Haushaltspläne für 2015 und 2016 machte, unterschätzte man das Problem völlig, plante 2015 mit 68,8 Millionen Euro, 2016 sogar mit einem Abschmelzen auf 64,9 Millionen bei den „Hilfen zur Erziehung“. Woher man diesen Optimismus nahm, ist in der Vorlage des Sozialdezernats nicht nachlesbar. Vielleicht hoffte da jemand in der Stadtspitze, der Wirtschaftsaufschwung würde jetzt endlich mal auch das ärmste Viertel der Stadtgesellschaft erfassen und zu einigermaßen stabilen Verhältnissen führen.

Das ist schlicht nicht der Fall. Gerade all jene, die schon seit Jahren mit diversen Vermittlungsbarrieren zu kämpfen haben, sind weiterhin draußen, haben keinen Teil am Aufschwung. Das Ergebnis sind manifeste familiäre, psychische, finanzielle und Suchtprobleme, die sich mittlerweile vererben. Von der ersten Nachwendegeneration auf ihre Kinder.

Und zwar deutlich massiver, als es das Bevölkerungswachstum vermuten lässt. Damit hat es ja auch nichts zu tun. Die wachsenden Fallzahlen bei „Hilfen zur Erziehung“ kommen aus der Stadt selbst, aus Problemgruppen, die schon vorher den Anschluss an eine von Sanktionen und Wettbewerb gepeitschte Entwicklung verloren haben, die eigentlich niedrigschwellige Einstiegsangebote in den Arbeitsmarkt brauchen – aber diese Angebote haben ja die Reformkünstler um Peter Hartz und seine politischen Nachbeter alle wegrationalisiert.

Eine auf „Effizienz“ getrimmte Gesellschaft schafft es nun einmal nicht, alle Menschen zu erfolgreichen Wettbewerbsteilnehmern zu machen. Sie lebt sogar davon, Menschen regelrecht auszusortieren. Das Denken sitzt tief. Die „Zeit“ schrieb selbst dieser Tage von „Minderleistern“ und der ethischen Dimension dieses Vokabulars aus dem neoliberalen Schulbuch. Es wird aber angewandt und es gibt genug Unternehmen, die sich so verhalten.

Schlimmer ist noch, dass Gerhard Schröder mit den Jobcentern eine Einrichtung geschaffen hat, die dieses Denken auch noch staatlich institutionalisiert hat. Das Denken, das darin steckt, zerfrisst unsere Gesellschaft, manifestiert beginnende Spaltungen sogar, sorgt für Ausgrenzung, Verachtung und Chancenlosigkeit.

Und das sorgt natürlich erst für die sichtbare Zerstörung von Familien. Nicht von allen. Es gibt genug Eltern und Alleinerziehende, die trotzdem kämpfen, auch wenn sie dabei gegen Windmühlen und Ämter anrennen und oft genug am Verzweifeln sind.

Aber was passiert mit denen, die die Hasenjagd aufgeben? Die nicht mehr mitspielen?

Für die sich weder die Chance auf auskömmliche Jobs noch auf ein finanziell gesichertes Familienleben erfüllen?

Und was passiert mit ihren Kindern?

Viele dieser Kinder landen irgendwann in der Obhut und Beratung des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD). Nämlich dann, wenn das Jugendamt deutliche Warnzeichen bekommt, dass Gesundheit und Wohlergehen des Kindes gefährdet sind. Dann muss es einschreiten, helfen und in Obhut nehmen.

Und es ist kein Zufall, dass die Zahlen ausgerechnet in dem Moment in die Höhe schnellen, in dem OBM Burkhard Jung glaubt, endlich eine Stadt im wirtschaftlichen Aufschwung zu sehen.

Der Aufschwung kommt – da unten – einfach nicht an.

Und schon für 2015 meldet das Sozialdezernat rapide steigende Fallzahlen: „Im Jahr 2015 sind in der Stadt Leipzig die Fallzahlen HzE von 2.453 im Januar auf 2.880 im Dezember 2015 gestiegen. Dies entspricht einem Jahresdurchschnitt von 2.634 und einer Steigerung von 427 Fällen.“

Und 2016 geht das genauso weiter. Man könnte es so sagen: Das Herdfeuer da unten glüht.

„Die aktuelle Prognose geht von einer weiteren Entwicklung im Jahr 2016 auf 2.858 Fälle im Jahresdurchschnitt aus. Insgesamt werden damit die der Planung ursprünglich zugrunde liegenden Fallzahlen für 2016 um 346 Fälle überschritten. Die genannten Fallzahlenanstiege 2016 sind hauptsächlich im Bereich der ambulanten Hilfen mit 1.246 Fällen, d.h. 202 Fällen über dem Planansatz von 1.044 Fällen, zu verzeichnen. Der Übergang in das Jahr 2016 erfolgte bereits mit einem Fallbestand von 1.194 ambulanten Hilfen, auf denen die weitere Entwicklung aufbauen wird.“

36 neue Fälle pro Monat?

Das ergibt jetzt einen Etat, der Leipzig – wenn sich an den Rahmenbedingungen nichts ändert – in den nächsten Jahren massiv über den Kopf wachsen wird.

Mit 68,8 Millionen Euro hatte man das Jahr 2015 geplant. Am Ende waren es 74 Millionen. Also stockte man nachträglich den Etat für 2016 von 64,9 auf 71,6 Millionen auf. Was viel zu blauäugig war. Es war ja wirklich nirgendwo eine Änderung des Grundproblems zu sehen.

Also gab es dann im August die notwendige Vorlage aus dem Sozialdezernat, noch einmal gründlich aufzustocken. Die 71 Millionen würden nicht im Ansatz reichen. Jetzt rechnet das Dezernat bis Jahresende mit 81 Millionen.

Und es stellt so nebenbei fest, dass man eine wichtige Entwicklung einfach vertrödelt hat: Man hat die Unterbringungskapazitäten für Kinder und Jugendliche, die stationär aufgenommen werden müssen, nicht rechtzeitig ausgebaut. Die Kinder müssen sogar schon außerhalb Leipzigs untergebracht werden, weil es in Leipzig keine Plätze mehr gibt: „Eine fehlende quantitativ und qualitativ existierende Angebotsstruktur führt insbesondere im Bereich der stationären Hilfen zu Verteuerungen. Dies ist mittlerweile signifikant für die stationären Hilfen“, heißt es in der Vorlage. „Darüber hinaus führt die fehlende Angebotsstruktur zu einem weiteren stetigen Anstieg der außerhalb von Leipzig untergebrachten Kinder und Jugendlichen. Aufgrund der teilweise erheblichen Entfernungen kann insbesondere die Steuerung der Rückführung der Kinder und Jugendlichen in den elterlichen Haushalt nicht ausreichend gesichert werden.“

Dass hier wieder völlig falsch „gespart“ wurde, zeigen die Prognosen: Für 2015 hatte man mit 835 unterzubringenden Kindern geplant, im Jahresschnitt waren es dann aber 884. Für 2016 hatte man – siehe oben – aus irgendwelchen Gründen ein Abschmelzen auf 830 geplant, stattdessen stieg die Durchschnittszahl auf 956.

Irgendjemand hatte da also sehr rosige Träume von der sozialen Entwicklung in Leipzig. Wobei das Sozialamt sich auch bei der Planung bewusst war, dass allein schon die wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen dazu führen würde, dass auch im ASD die Fallzahlen steigen.

Die soziale Komponente hat man dabei völlig außer Acht gelassen. Die versucht man im ASD nun seit 2015 erst einmal systematisch zu erfassen. Wenn man das dann irgendwann gründlich auswertet, wird man wohl feststellen, wie viel ein wirklich funktionierender Arbeitsmarkt, ein auskömmliches Einkommen, soziale Teilhabe und echte Lebenschancen mit diesem wachsenden Problem im Sozialen zu tun haben. Man kann nicht Teile einer Gesellschaft einfach irgendwo abladen und glauben, der Wunsch, ein volles menschliches Leben führen zu dürfen, würde sich nicht irgendwo austoben.

Für Städte wie Leipzig wird das teuer. Und schon binnen weniger Jahre nicht mehr bezahlbar. Das ist die eigentliche Nachricht hinter der Vorlage.

Die Vorlage des Sozialdezernats zu den gestiegenen Kosten für „Hilfe zur Erziehung“.

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Gibt es denn überhaupt schon eine Statistik aus der der soziale Status der Kinder und Jugendlichen hervorgeht, die Hilfen zur Erziehung bekommen? Bzw deren Eltern?

Mir ist zwar der Zusammenhang zwischen Armut und stark geschrumpften Chancen einerseits und “Aufsässigkeit” und vielleicht beginnendes kriminelles Handeln durchaus bewusst. Jedoch kann ich nicht glauben, dass die jugendlichen Klienten des ASD allesamt im Armutsbereich zu Hause sind.

Dass es jedoch mit Sicherheit im Bereich der Armut zu größeren Schwierigkeiten kommt ist mir durchaus bekannt, teilweise aus eigenem Erleben. Denn Eltern können noch so sehr verzichten, sich abstrampeln, sparen an sich selbst: existieren müssen sie trotzdem. Sicher fällt es verdammt schwer, in dieser Überflussgesellschaft der Sparsamkeit und dem Mangel das Wort zu reden. Auch Eltern haben Wünsche. Ebenso kann sicher auch man mittelprächtig Verdienender nicht alle materiellen Wünsche der Sprösslinge erfüllen. Es kann nunmal nicht jeden Tag Lego-Land geben.

Jedoch ist in armen Familien täglich Thema, wenn in der Schule wieder x € gefordert werden für diesen einen ganz bestimmten und garantiert teuersten grafischen Taschenrechner, für die Klassenfahrt, für neue Klamotten, angesagte Turnschuhe usw. Selbst das nicht vom Bildungspaket umfasste aber dringend benötigte Lehrbuch ist nur allzuoft unerschwinglich und wieder ein Ding mehr, das zur Ausgrenzung führt, bei den jungen Leuten zur Scham und zur Wut auf ihre finanziell armen Eltern. Dass die irgendwann auch mal am Ende ihres manchmal sogar erlernten Lateins sind, ist wohl verständlich.

Was soll denn ein Kind, ein Jugendlicher, tun, der schon im Kindergarten mit dem Wort Sozialschmarotzer konfrontiert wird, der es tagtäglich aus berufenem politischen und wirtschaftlich weisen Munde um die Ohren gehauen bekommt, mit dem daran anschließenden Satz, dass aus “sowas” ja sowieso nichts werden könne, schon die Eltern seien bildungsfern? Aus meiner Beratungstätigkeit weis ich, dass sehr viele sogar Abitur haben, gar abgeschlossenes Studium. Wo ist da Bildungsferne?
Wenn allerdings so ein politisches Plappermäulchen einen Hauptschulabschluss oder Realschulabschluss schon als Bildungsferne definiert, dann frage ich mich, was dieses Plappermäulchen dann die ganzen Jahre in der Politik getrieben hat, wenn er diese Abschlüsse nicht mit besseren Lehrplänen, qulifizierten und vor allem ausreichenden Lehrern aufwertet?

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