Die Lebenswelt der Sachsen hat sich verändert. Was auch mit der radikal veränderten Arbeitswelt zu tun hat. Die Bedingungen, die früher das Thema Familie bestimmten, haben sich verändert. Und immer mehr junge Menschen leben allein, nicht immer freiwillig – das Thema Alleinerziehende liegt ungelöst auf dem Tisch. Am 12. April waren sie – aus Anlass einer Grünen-Anfrage – Thema im Landtag.

Von 2008 bis 2015 erhöhte sich die Zahl der alleinerziehenden Väter in Sachsen von 6.400 auf 11.300. Die Zahl der Alleinerziehenden-Familien insgesamt stieg von 82.200 auf 93.400. Die Zahl der dort lebenden Minderjährigen stieg von 124.800 auf 140.000. Wobei das Jahr 2015 schon eine Besserung der Lage bedeutete. Denn es war das erste Jahr, in dem die zunehmende Arbeitskräftenachfrage auch die Alleinerziehenden erreichte und die Zahl der arbeitslos gemeldeten Alleinerziehenden erstmals seit über zehn Jahren sinken ließ.

Volkmar Zschocke, Vorsitzender der Grünen-Fraktion, nahm am Rednerpult im Landtag Stellung zu dem, was die Große Anfrage erbracht hat.

„Die offizielle Familienpolitik orientiert sich dagegen allerdings noch allzu oft am Leitbild einer Familie mit zwei Elternteilen“, kritisierte er dabei die altbackene Politik der großen Parteien, die immer noch ihr altes Familienbild päppeln, obwohl das für junge Menschen fast nicht mehr lebbar ist. „Wer von Ihnen Menschen, die allein erziehen, kennt – kennt vielleicht auch das Selbstbewusstsein, was sie oft ausstrahlen: Ich bin stark, ich schaffe das schon. Doch ein Blick hinter die Fassade zeigt die hohen Belastungen. Alleinerziehende sind Alltagsjoungleure, sind regelrechte Termin- und Ressourcenmanagerinnen. Alleine erziehen ist möglich, ist inzwischen normale Lebensrealität in Sachsen, ist aber oft auch ein Balanceakt.“

Die sächsische Statistik kann freilich die Vielfalt der Lebensformen Alleinerziehender nicht abbilden.

„Es gibt Herausforderungen, die sich besonders Alleinerziehenden stellen. Sie und ihre Kinder sind häufiger von Armut bedroht. Sie haben schlechtere Ausbildungschancen. Sie haben einen erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt. Und sie sind oft von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen. Viele Frauen, die allein erziehen, haben ein geringes Einkommen, die Hälfte von ihnen arbeitet in Teilzeit“, zählte Zschocke dann einige der negativen Rahmenbedingungen im Leben Alleinerziehender auf. „Die Zahl der Alleinerziehenden in Sachsen ist seit 2008 weiter deutlich angestiegen. 2015 waren es 93.000 gegenüber 82.000 im Jahr 2008. Diese Familienform macht aktuell ein Viertel aller Familien in Sachsen aus. 144.000 Kinder lebten 2015 in Familien von Alleinerziehenden.“

Das Problem aber ist: Für diese oft ganz und gar nicht freiwillig gewählten Lebenslagen gibt es so gut wie keine konsistente Politik.

„Die Lebensphase, in der Mütter oder auch Väter allein erziehen, braucht deutlich mehr familienpolitische Aufmerksamkeit. Und dabei ist der Fokus eben nicht auf die Frage zu richten ‚Warum ist jemand alleinerziehend?‘ sondern ‚Wie ist das eigentlich zu schaffen? Wie sind die Herausforderungen zu bewältigen?‘“, formulierte es Zschocke. Denn während für andere Arbeitsuchende längst die Türen in eine Erwerbstätigkeit aufgingen, blieben Alleinerziehende noch immer in der Arbeitslosigkeit hängen. Die Jobangebote waren (und sind) einfach nicht mit einem Ein-Elternteil-Haushalt zu vereinbaren.

„Familiengerechte Arbeitszeitmodelle haben sich noch nicht überall etabliert. In der sächsischen Verwaltung gibt es zwar eine Vielzahl an Angeboten zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Auffallend ist jedoch, dass die Angebote in den einzelnen Ministerien und Unternehmen des Freistaates unterschiedlich ausgeprägt sind“, stellte Zschocke fest. Oder mal so formuliert: Familiengerechtigkeit ist ein ziemlich löcheriger Flickenteppich – auch in den staatlichen und kommunalen Behörden.

Und selbst beim Berufsabschluss haben alleinerziehende Eltern sichtbare Nachteile. „Es gibt eine kontinuierliche Zunahme von Alleinerziehenden ohne beruflichen Abschluss in Sachsen. 2008 waren 7.300 Alleinerziehende betroffen. 2015 waren es bereits 10.000. Diese Entwicklung steht dem allgemeinen Trend entgegen. Der Anteil der Gesamtbevölkerung ohne beruflichen Abschluss ist um ein Viertel zurückgegangen. Gerade für junge Eltern ist es schwer, mit kleinen Kindern eine Ausbildung oder ein Studium zu absolvieren“, benannte Zschocke das Problem. „Die sächsischen Hochschulen bieten alleinerziehenden Studierenden zwar verschiedene Maßnahmen an, die dazu beitragen, Familie und Studium vereinbaren zu können. Es gibt aber nur an wenigen Hochschulen das Angebot für ein Teilzeitstudium.“

Und dann gibt es da noch das leidige Thema der Kinderbetreuung, das Volkmar Zschocke sehr farbig ausmalte: „Eine in Vollzeit arbeitende Alleinerziehende bräuchte an einem normalen Feierabend eigentlich vier Hände: Abendessen machen, wegen dem Hortplatz telefonieren, Spülmaschine ausräumen, Waschmaschine einräumen, bei Hausaufgaben helfen – in solche Engstellen geraten Alleinerziehende regelmäßig, weil das Zeitfenster für Familienarbeit nach Dienstschluss einfach zu klein ist. Fernab der regulären Kita-Öffnungszeiten gibt es wenig flexible Betreuungsangebote. Diese sind für Alleinerziehende jedoch von großer Bedeutung, damit sie die besonderen Belastungen durch Beruf, Erziehung und Haushalt überhaupt bewältigen können.“

Und dann kam er am Rande doch noch auf das Warum: Warum sind junge Menschen heute eigentlich alleinerziehend? Kann es sein, dass die hochtourige und hochflexible Arbeitswelt auch noch extrem partnerschaftsverschleißend ist?

„Wer sich dafür entschieden hat, die Kinder lieber alleine großzuziehen, als eine belastende Partnerschaft krampfhaft aufrechtzuerhalten, wird danach wahrscheinlich auch Schwierigkeiten haben, wieder gemeinsame Erziehungsverantwortung im Alltag zu organisieren. Mit diesen Problemen bleiben getrennt lebende Eltern oft allein“, so Zschocke. Und er brachte dann die abgefragten Erkenntnisse auf den Punkt: „Die Antworten auf die große Anfrage zeigen viele weitere Herausforderungen auf – insbesondere was die gesundheitliche oder wirtschaftliche Situation von Alleinerziehenden betrifft. Sie geraten schnell in einen Teufelskreis: Wer mit den Kindern allein lebt, hat schlechtere Aufstiegschancen im Beruf und durch brüchige Erwerbsbiographien am Ende weniger Rente, hat aber auch im Alltag dann zu wenig übrig, um privat vorzusorgen. Fast die Hälfte der Alleinerziehenden leben im ALG-II-Bezug. Ausbleibende Unterhaltszahlungen bleiben zudem ein großes Problem. Auch im Steuer- und Sozialrecht wird der Lebenssituation von Alleinerziehenden noch viel zu wenig Rechnung getragen.“

Sein Fazit: „Es gibt ein Ungleichgewicht in unserer Gesellschaft zulasten von Familien und dieses Ungleichgewicht zeigt sich besonders deutlich in den Lebenslagen von Einelternfamilien. Dieses Ungleichgewicht ist auch ein Ausdruck oder eine Folge der nach wie vor bestehenden Benachteiligung von Frauen in unserer Gesellschaft.“

Es müsste also deutlich mehr für die Unterstützung Alleinerziehender passieren, heißt es im Entschließungsantrag der Grünen zum Thema.

Da geht es um den Ausbau der Beratung für Unternehmen zu familiengerechten Arbeitszeitmodellen, um die Verbesserung der Möglichkeiten für Berufsausbildung und Studium in Teilzeit, die Entwicklung von Angeboten flexibler Kindertagesbetreuung sowie um Hol- und Bringediensten, um die Anpassung der Maßnahmen in den Jobcentern an die Lebenssituation Alleinerziehender, die Unterstützung von getrennt lebenden Eltern bei der gemeinsamen Erziehung …

„Viele Verbesserungen für Alleinerziehende können nur auf der Bundesebene erreicht werden. Die Einführung einer gleichen staatlichen Förderung für jedes Kind – unabhängig von Einkommen und Steuerstatus der Eltern – gehört dazu“, sagte Zschocke noch. „Auf Landesebene können wir dafür sorgen, dass Alleinerziehende gar nicht erst in einen wirtschaftlichen Teufelskreis geraten, sondern hier in Sachsen eine gute Ausbildung machen können, eine gute Arbeit finden und auch bei Teilzeitbeschäftigung Aufstiegschancen im Beruf haben. Wir können dafür sorgen, dass Alleinerziehende auch Zeiten für Regeneration und die eigene Gesundheitsvorsorge finden. Von besseren Rahmenbedingungen für das Zusammenleben mit Kindern profitieren am Ende alle.“

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