Am heutigen 9. Oktober hielt der tschechische Schriftsteller Milan Uhde in der Leipziger Nikolaikirche die nun schon traditionelle "Rede zur Demokratie". Darin erinnerte er nicht nur an den langen Prozess, aus dem die tschechische Demokratie geboren wurde und welche Rolle dabei die auch von ihm unterzeichnete "Charta 77" dabei spielte. Er mahnte auch die gegenwärtigen Entwicklungen der Demokratie an. Der Gefährdungen sind nicht weniger geworden.

Was auch an den politischen Akteuren liegt. Und da schildert der 77-jährige Schriftsteller scheinbar nur tschechische Entwicklungen, die aber frappierend auch den Entwicklung in “gestandenen” westlichen Demokratien ähneln.

“Wer der Meinung ist, dass wir gegen die zeitgenössische Bedrohung unserer Demokratie machtlos stehen und dass wir schweigend in der Zuflucht des Privatlebens alle gesellschaftlichen Konflikte überleben, nimmt auf sich die Verantwortung nicht nur für unsere Gesellschaft, sondern auch für sich selbst und seine Familie. Solche Stellungen zu den dringlichsten Tagesfragen verursachen bösartige Konsequenzen für die ganze Welt”, sagte Uhde. “Liegt aber die Bedrohung unserer Demokratie nur in den erwähnten Krankheiten und in den falschen Vorstellungen von den Möglichkeiten der Menschheit, ihr Schicksal aktiv zu beeinflussen?”

Erstaunlicherweise eine Frage, die auch in deutschen Diskussionen immer wieder gestellt wird, wenn über Wahlmüdigkeit und Politikverdrossenheit diskutiert wird.

Und er sprach auch einen Punkt der Frustration an, den auch ostdeutsche Bürgerrechtler erlebten. Da bringt man eine ganze Diktatur zu Fall – aber das Ergebnis ist in mancher Weise mehr als enttäuschend. Uhde: “Eine der schwersten Sünden des Totalitarismus liegt darin, dass das diktatorische System keine Lösung sowohl der einfachsten, als auch der kompliziertesten gesellschaftlichen Probleme gestattet und die Gesellschaft auf revolutionäre Schritte drängt.”
Übrigens ein Satz, der beunruhigen sollte. Nicht nur Diktatoren. Und schon gar nicht nur krypro-kommunistische Dikatoren. Eine Gesellschaft, die jede Lösung derart mit Macht verhindert, erzwingt den gewalttätigen Umsturz gerade. Nur – siehe den sogenannten arabischen Frühling – das Ergebnis ist mehr als unberechenbar.

Milan Uhde: “Jede Revolution öffnet Tür und Tor nicht nur bewussten, begeisterten und uneigennützigen Erbauern der demokratischen Gesellschaftsordnung, sondern auch gewinnsüchtigen, unmoralischen und zu allem fähigen Suchern nach ihrem eigenen Profit und nach ihrer eigenen Bereicherung. – In der Tschechischen Republik kam es in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts zur verderblichen Entwicklung: manche von unseren praktischen Politikern eigneten sich eine üble Angewohnheit an, politische Prinzipien und Interessen des Staates persönlichen ökonomischen Vorteilen der Funktionäre unterzuordnen.”

Er sprach auch davon, wie leicht solche auf Eigeninteresse zielenden Parteistrukturen von einzelnen Personen mit viel Geld regelrecht gekapert werden können. Und er sprach vom daraus folgenden Frust der Wähler: “Unsere Öffentlichkeit reagierte auf diese Situation mit einem immer zunehmenden Widerwillen gegen das ganze Gebiet der Politik. Ein Politiker von Beruf wird den Meinungsumfragen nach für den verachtetsten Professionellen angesehen. Die Leute misstrauen immer mehr vor allem den traditionellen politischen Parteien.”

Das kommt einem doch sehr vertraut vor. Aber wozu führt es, wenn das Ruder nicht herumgerissen wird? – Milan Uhde: “Diese öffentliche Atmosphäre kommt Demagogen entgegen, die alle Politiker zu beseitigen und sie durch Fachleute zu ersetzen versprechen. Es klang eine Ansicht, dass ein Staat ebenso wie eine Firma geleitet und verwaltet werden muss. Den Meinungsumfragen nach wird diese Ansicht mit großen Sympathien eines Teiles unserer Gesellschaft angenommen, ja sogar empfangen.”

Und auch das kommt einem aus deutschen Landen recht vertraut vor. Sozial gedachte Politik weicht immer mehr einer Willfährigkeit dem blanken kapitalistischen Wettbewerb gegenüber. Mit einer ganz entscheidenden Folge, die Uhde benannte: “Die ursprüngliche Zuversicht auf Demokratie und die absolute Begeisterung für Freiheit schwächen sich ab.”

Und auch in Tschechien reden einige Leute sehr lautstark einen Widerspruch herbei, der eigentlich keiner ist. Milan Uhde: “Dieser künstliche und lügnerische Widerspruch, der einen mutmaßlich unlösbaren Konflikt und Streit heraufbeschwört zwischen dem menschlichen Wunsch, sein tägliches Brot sicher zu haben, und zwischen der menschlichen Sehnsucht nach Freiheit und dem Bedürfnis der Freiheit, signalisiert eine der dringendsten Gefährdung, der die zeitgenössische Gesellschaft gegensteuern muss.”

Er redete zwar die ganze Zeit von seinem Heimatland. Aber seine Rede war auch ein kleiner Appell an das Nachbarland.

Aber auch von globalen Entwicklungen sieht er die Demokratien bedroht, die sich diesem Druck oft auch noch willig beugen.

Was aber kann man tun? – Uhde: “Wenn Sie mich danach fragen, welchen konkreten Weg es zur Rettung der Demokratie gibt, muss ich gestehen, dass ich es nicht weiß. Ich bin aber sicher, dass sich hinter dem Horizont auch ein Weg ausbreitet, obwohl wir ihn nicht sehen. Diesen Weg zu suchen, zu finden und dann zu nehmen, ist unsere lebenslängliche Aufgabe und unser unwegdenkbares Schicksal.”
Die komplette Rede als PDF zum download.

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