Mein Freund S. hat neben allerhand Begabung zur Freundschaft eine merkwürdige Besonderheit: Er scannt mit einem Blick auch den noch so nichtigsten Rechtschreibfehler in Sekundenschnelle – ganz gleich, ob auf der Seite eines Buches, auf der einer wissenschaftlichen Arbeit oder in einer Email. Selbst im fortschreitenden Leseprozess, also drei Seiten später, müsse er nicht selten noch einmal zurückblättern, weil der Fehler ihn so sehr störe, dass er sich nicht mehr auf den Inhalt des Geschriebenen konzentrieren könne. Er ist damit – so kann man das vielleicht sagen – eine Art umgekehrter Legastheniker.

Umgekehrte Legastheniker sind sehr selten heutzutage. Das weiß ein jeder, der sich mit schriftlichen Elaboraten von Kindern und Jugendlichen sowie denen junger Erwachsener auseinandersetzen muss. Das Gegenteil wird offensichtlich zum Normalfall, Legastheniker sind auf dem traurigen Vormarsch.

Nun kann man sich darüber streiten, ob und wie wichtig Rechtschreibleistungen überhaupt sind. Ich möchte mich diesbezüglich weit aus dem Fenster lehnen und behaupten, sie sind nicht nur wichtig – und überdies eine dringend notwendige Höflichkeit für den Leser (Man stelle sich einmal vor, flüchtige Bekannte gäben sich bei jedem Zusammentreffen mit neuem Namen aus!) -, sondern nicht selten sogar kriegsentscheidend: So kann man in Kroatien sicher einen großen Anteil der Bevölkerung mit der Schilderung erfreuen, man sei von einer Serbentine aus der Bahn geworfen worden, in Belgrad jedoch könnte man sich an Sarajevo und dessen bekannten Attentat ein Beispiel nehmen wollen. Wir sehen also: Ganz weglassen kann man sie nicht, die Lehre von der richtigen Schreibung, so lange man an Verstandensein und friedlichem Zusammenleben interessiert ist.

Weil die Legastheniker aber so fiele, Entschuldigung – so viele geworden sind, sollten wir an dieser Stelle gleich jemandem gratulieren: Der Bundesverband Legasthenie e.V wird in diesem Jahr nämlich 41. Die 1974 ins Leben gerufene Interessenvertretung von Eltern betroffener Kinder hat einige Erfolge zu verzeichnen. Man leistet gute Arbeit dort. Es mag deshalb hart klingen, wenn ich auf diese lobenswerten Leistungen an dieser Stelle wenig eingehen werde und stattdessen kühn behaupte, dass ein solcher Verband gar nicht existieren müsste und die sich dort engagierenden Bürger im Grunde sich viel Erquicklicheres aus dem bunten Strauß des Lebens pflücken könnten.

Da ich ohnehin schon weit über das ungefährliche Maß aus dem Fenster hänge (sh. oben), möchte ich sogar soweit gehen zu vermuten, dass Legasthenie zu 99 % vermeidbar wäre, wenn der Mensch nicht dazu neigte, aus irgendeinem Grund heraus, an langjährigem Fehlverhalten liebevoll festzuhalten.

Um dies zu veranschaulichen, muss man allerdings ein klein wenig ausholen und zunächst die Frage stellen, warum es erst seit ca. 40 Jahren einen Verband gibt, der sich um lese- und rechtschreibschwache Kinder kümmert – mit dem keinesfalls üblen Ziel, diesen eine ihrer Intelligenz entsprechende Schullaufbahn zu ermöglichen, wenn nicht gar zu erstreiten? Denn doof sind die Legastheniker wahrlich nicht. Das wird jeder bestätigen, der mit dieser oft nicht zu beneidenden Klientel zu tun hat.

Die Antwort ist so simpel wie wahr: Das Phänomen existierte nahezu nicht vor 1965/1970 in Deutschland. Selbst wenn sich diese These nicht durch einen fulminanten Sockel gesicherter Studien gestützt sieht, so wird die Generation über 65 in nahezu beängstigender Einheit diese Aussage mit ihren Erfahrungen untermauern.

Ostdeutsche würden sogar ab 35 untermauern, aber Ostdeutsche und Mauern sind ein heikles Thema. Trotzdem: „Legastheniker“? Was soll das denn sein?“, hätten wir mit unseren Omis im Duett kopfschüttelnd gefragt. Sogar mit denen aus dem Westen. Ehrlich: Wir hätten „Legasthenie“ nicht erklären können, aber immerhin schreiben.

Warum aber ist alles so anders geworden? Haben sich die Gene der Kinder verändert, weil die modernen Mütter in der Schwangerschaft neuerdings so gern Spieluhren auf den wachsenden Bauch legen oder zu viel entspannende Musik mit den Gesängen unglücklicher Wale hören? Sicher nicht.

Entscheidend ist der Zeitpunkt, wann reformpädagogisches Gedankengut im großen Stile in die Methodenlandschaft der Schulen eingezogen ist. Das war in den alten Bundesländern entsprechend eher der Fall, also schon in den Siebzigern, mit dem Fall der Mauer infiltrierte man ungehindert damit auch die Ostschule. In Westdeutschland im Grunde bereits gescheiterte Modelle wurden bei uns derart jubelnd begrüßt wie einst die Achtzehnjährigen arglos mit Blumen in den Gewehrläufen in den Ersten Weltkrieg gezogen waren.

Das Phänomen kennt kein Pardon. Auch aktuelle Auseinandersetzungen sind betroffen.
Das Phänomen kennt kein Pardon. Auch aktuelle Auseinandersetzungen sind betroffen. Foto: L-IZ.de

Als Folge gibt es nun eben bundesweit zahlreiche Schreiber mit orthographischem Holzbein zu beklagen.

Nun kann man – wenn man die Gerechtigkeit ein wenig walten lassen will – Reformpädagogen nicht grundsätzlich verteufeln, vieles an ihrem Treiben ist im Kern menschenfreundlich gedacht und der kreativen sowie angstfreien Entwicklung eines Kindes sogar sehr zuträglich. Es wäre bigott, wenn man darauf hoffte, dass wir zurückkehren werden zu einer Schar Kinder, die kerzengerade im Matrosenkragen an ihren Pulten sitzt und auf dem Heimweg mit einem Südwester auf dem Kopp einen Kreisel vor sich her treibt.

Nostalgie hin, Moderne her – fakt ist: Im Falle des Schreiblernprozesses eines sechs- bis siebenjährigen Gehirns sind unstrukturierte und offene Methoden vor allem eines: fahrlässigster Schwachsinn. Kinder, die sich vormittags in Schreibkonferenzen basisdemokratisch über die richtige Schreibung beraten, sitzen meist nachmittags mit der Oma (kostengünstig) oder in Nachilfe-Instituten (preisintensiv) und müssen üben.

Denn ohne zeitintensives Üben geht es leider nicht: Das Wichtigste für das Raffen der grundlegenden Funktion des Lesens und Schreibens ist nämlich die Automatisierung. Wenn man etwas automatisiert hat, kann man dies unabhängig von der Aufmerksamkeit mühelos und sicher abrufen. Jedes Mal beim Autofahren die Verkehrsregeln mit leise murmelnden Lippenbewegungen zu wiederholen, wirkt schließlich auch nicht gerade souverän.

Und genau dabei hakt es im Getriebe. Wenn in der aktuellen Praxis vor allem darauf Wert gelegt wird, dass Kinder in ihrem übersprudelnden Ausdrucksbedürfnis durch enge Regelhaftigkeit nicht gestoppt und korrigiert werden sollen, vernachlässigt man wesentliche neurobiologische Tatsachen.

In einem Gespräch mit einem langjährig wissenschaftlich zu diesem Thema arbeitenden Kinderarzt (der sogar seine Wurzeln in Schleswig-Holstein hat!), bestätigt dieser: Entscheidend fürs Schreibenlernen sind Dauer und Intensität der zu verarbeitenden Information. Wenn grundlegende Kompetenzen ungenügend neurologisch abgespeichert werden, erschwert man zwangsläufig den Aufbau höherer, komplexerer Lernprozesse.

Mit anderen Worten: Man zieht sich Legastheniker heran, für die später alles, was über Geschriebenes erworben werden muss, ein Krampf bleiben kann. Und betroffen sind nicht nur sie allein: An ihnen hängen Eltern, die jahrelang entnervt zu irgendwelchen Experten und der ganzen Hilfs-Armada rennen, um Hilfe zu organisieren oder eben ihre eigene Zeit opfern müssen, um das abzufangen, was in der Schule ohne Not gemacht werden könnte bzw. bereits vor Jahrzehnten ganz ordentlich – und vor allem erfolgreich – praktiziert worden ist.

Vielleicht wäre es ratsam, liebe Eltern, ein wenig mehr auf der Hut zu sein, wenn der Grundschullehrerverband mal wieder eine gute Idee zum innovativen Schreiblernen hat. Seid per se misstrauisch, wenn Pädagogen mal wieder ganz neue Methoden beim Erlernen von Basis-Fertigkeiten aufs Tapet bringen.

Auch Lehrpersonen sollten sich mehr trauen: NEIN sagen zum Beispiel, wenn ihnen wieder einmal eine Weiterbildung aufgezwungen wird, denn „Weiterbildung ist allein wegen der Weiterbildung wichtig, „Weiterbildung pour Weiterbildung“ sozusagen, selbst wenn das dort als neuartig Gepriesene auf einen Irrweg führt, den es Jahre später mühsam zu begradigen gilt.

Manche mögen sagen, das sei er eben – der Preis der Freiheit.

Die Frage ist nur, mit welchem Leid dieser verbunden ist. Mit welchen Kosten, welch Gefühlen des Scheiterns und Versagens des Einzelnen. Die Frage ist immer, wer den Preis der Freiheit festsetzt und wer letztlich daran verdient.

Wenn ihr ein bisschen mehr nach vorne geht in dem besagten Sinne, dann müssen wir auch nicht befürchten, dass wir in Bälde vor Kindereinrichtungen stehen, die „Wegen Vortbildung geschlosen“ sind.

Mit einem Satz: Bleibt FIBELminded! Aus guter Erfahrung und dem besten Grund der Welt – aus Liebe zum Kind.

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