Breslau 1933: Die jüdische Gemeinde ist die drittgrößte im Deutschen Reich. Noch. Binnen weniger Jahre zerfällt das Gemeindeleben, flüchten die, die können, verschwinden die, die nicht mehr weg können oder wollen. Nach und nach werden die Bleibenden entrechtet und entnervt. „Kein Recht - nirgends“, Willy Cohns Tagebücher sind ein eindrucksvolles Zeugnis dieses Absturzes bis in gesellschaftliche Ächtung und Ermordung.

Eins vorweg: Willy Cohn ist niemand, dessen Schicksal man nicht schon kennen könnte. Sein Tagebuch des Jahres 1941 ist bereits 1975 in Israel und 1984 in Westdeutschland veröffentlich worden, seine Lebenserinnerungen „Verwehte Spuren. Erinnerungen an das Breslauer Judentum vor seinem Untergang“ erschienen 1995 und vor nunmehr neun Jahren gab Norbert Conrads Cohns Breslauer Tagebücher im Zeitraum 1933 bis 1941 unter dem Titel „Kein Recht – nirgends“ heraus. Doch scheint Cohns seltenes Beispiel als ein Jude, der den Untergang seines Volks, seiner Familie, seiner Lebensidee und seines eigenen Ichs beschreibt, noch mehr Aufmerksamkeit zu vertragen. Zu eindrücklich sind die Erlebnisse des Historikers, die er regelmäßig in seinen Tagebüchern festhält, die er kurz vor seiner Deportation durch die Gestapo an einen Bekannten weiterreicht und die in Berlin den Krieg überleben.

Cohn ist stolz, Deutscher zu sein. Im Ersten Weltkrieg war er Frontkämpfer und dafür das Eiserne Kreuz erhalten. In Vaterlandstreue zeichnete er Kriegsanleihen und verlor sein Geld. Er hing an diesem Land und das war sein Problem, denn er konnte sich lange Zeit nicht zu einer Ausreise aus dem Deutschen Reich bewegen. Auch als es um ihn herum immer einsamer wurde, Freunde und Bekannte aus der Synagoge das Land verließen. Im April 1935 notiert er in sein Tagebuch: „Wenn wir Juden in diesen Zeitläufen durch die Landschaft gehen, so tun wir dies mit einem ganz eigenartigen Gefühl. Auf der einen Seite ist es das Land, in dem man geboren ist und dessen Entwicklung man durch Jahrzehnte verfolgt hat; auf der anderen Seite sind wir aus ihm ausgeschaltet und ihm fremd geworden. Wir sind da ganz allein.“

Ein Zitat, das Cohns seelischen Zustand formidabel beschreibt. Mit Gottvertrauen und offenbar stoischer Ruhe erträgt Cohn jede Hürde, die ihm ab dem 30. Januar 1933 in den Weg gestellt wird. Zunächst verliert er seinen Lehrauftrag am Breslauer Johannes-Gymnasiums, er wird „aus politischen Gründen in den Ruhestand versetzt“. Mit 44 Jahren ist Cohn, der 14 Jahre nur als Lehrer gearbeitet hatte, weil man an der Universität schon vor dem 1. Weltkrieg Ressentiments gegen jüdische Wissenschaftler hatte, arbeitslos und versucht sich in verstärkter Vortrags- und Publikationstätigkeit. Aber die Gelegenheiten werden immer rarer und Cohn besitzt soviel/zuviel Stolz, dass er sich lange Zeit weigert, Klinken zu putzen und Menschen mit dem Honigeimer in der Hand zu begegnen. So beginnt ein finanzieller Kraftakt, der fortan den Alltag der jüdischen Familie prägt.

Cohn selbst überprüft 1937 mit seiner zweiten Frau Trudi die Möglichkeit, ebenfalls nach Palästina auszuwandern. Doch für eine Arbeit in einem sogenannten Kibbuz, einer landwirtschaftlichen Siedlung in Palästina, ist er zu schwach. Irgendwie hätte Cohn dort landen können, aber auch seine Frau streikt, fühlt sich auf einer Erkundungsreise nicht wohl. Das Ehepaar streitet sich immer häufiger, Cohns Tagebuch illustriert jedes Mal aufs Neue, wie schwierig die Gemütslage in seinem jüdischen Haus zu dieser Zeit war. Wie schlimm wird es noch werden? Was werden wir noch ertragen können? Würde es uns woanders besser gehen? Wer kann uns helfen? Wir wissen die Antworten auf all diese Fragen, die Cohn in vielen wachen Nächten zu beantworten versucht. Es sind quälende Fragen, die sich der Historiker und seine Frau immer wieder stellen und sie sind sich uneins. Denn seine Frau ist gegen eine Ausreise. Gebrochen durch diesen Konflikt mit ihr und die zunehmenden Repressalien, verliert auch Cohn immer mehr die Lebensfreude. Da sind die Bänke, die er auf seinen Spaziergängen nicht mehr nutzen darf und nun zwei Stunden ohne Rast – so er denn nicht auf dem Boden sitzen will – unterwegs ist. Da ist die regelmäßige Meldepflicht bei der Gestapo: „Wollen Sie ausreisen? Was tun Sie dafür?“, da sind hundert kleine Traktierungen der jüdischen Seele, die sich mit dem Ausbruch des 2. Weltkriegs noch verschärfen. Ausgehverbot, Judenstern-Pflicht, die Angst um die eigene Wohnung, die sich immer mehr „arische Menschen“ anschauen kommen und die jederzeit diesen übereignet werden könnte.

Cohn berichtet von Nervenzusammenbrüchen, von Streit mit seiner Frau, von seinen Kindern, die sich trotz aller Pöbeleien, die auf der Straße spätestens nach der Reichspogromnacht zunehmen, nicht vom Judentum abbringen lassen, vom Halt in seinem Glauben, von den Fehlern, die sein Volk gemacht hat und mit denen er diese Zustände zu erklären versucht, vom täglichen Kampf gegen die Sinnlosigkeit des Kampfs und von der Hoffnung, dass dieses Unrecht irgendwann gesühnt wird.

Als Historiker ahnte Cohn frühzeitig, dass dieser Krieg Deutschland nicht als Sieger sehen wird und er ahnte immer wieder, dass auch er irgendwann an der Reihe sein wird, „verschickt“ zu werden. Wenigstens gelingt noch einem Familienmitglied die Flucht, Cohn muss mit seiner Frau und den zwei jüngsten Töchtern (drei und zwölf Jahre alt) die Wohnung verlassen und wird mit 1.000 anderen Breslauer Juden per Zug nach Litauen geschickt. Dort werden sie erschossen.

Seine Tagebücher sind eine sprachliche Augenweide ohne emotionslos zu sein, sie geben einen Einblick in die drastischen Veränderungen in der jüdische Lebenswelt im einst schönen Breslau, das immer mehr zu verrohen scheint, von der Einsamkeit, die jemanden umgeben kann, der einstmals ein angesehener Bestandteil dieser Stadt war. Von Norbert Conrads herausgegeben stören nur die 381 Endnoten, die man immer wieder erblättern muss.

Als kompakte Variante: Cohn, Willy “Kein Recht – nirgends. Breslauer Tagebücher 1933-1941. Eine Auswahl” erschienen bei der Bundeszentrale für politische Bildung, bpb-Schriftenreihe Band 768)

Oder direkt als zweibändige Ausgabe: Willy Cohn “Kein Recht, nirgends. Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums 1933-1941”, Böhlau Verlag, 59,90 Euro

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