Der Islam führt zu heftigen Diskussionen. Auch wenn es DEN Islam so nicht gibt. Im Islam spielt das Recht eine wichtige Rolle. Was aber ist das islamische Recht? Ist das islamische Recht mit unseren Gesetzen vereinbar? Gibt es einen modernen Islam, der seine Quellen historisch-kritisch auslegt? Professor Hans-Georg Ebert ist an der Universität Leipzig Professor für islamisches Recht. Ihn befragte ich zu den Brennpunkten rund um den Islam.

Da gibt es ja tatsächlich viele Stimmen im Islam, die betonen, dass der IS sich zu Unrecht auf den Koran berufe. Andere Stimmen jedoch weisen in diesem Kontext auf das Konzept der Abrogation hin. Das Konzept wird dahingehend gedeutet, dass zeitlich früher offenbarte friedliche Verse durch spätere aufgehoben seien, die zur Gewalt aufrufen.

Abrogation ist kein rein rechtliches Problem, sondern vielmehr eine allgemeine Methode der Auseinandersetzung mit „heiligen“ Texten. Es geht um Abrogation, d.h. Aufhebung von Koranversen und Überlieferungen aufgrund eines zeitlich nachfolgenden Textes. Die Überlieferungen müssen wir dabei viel stärker im Auge behalten. Ich nannte schon den Koranvers 9,29, der in diesem Zusammenhang als Beispiel aufgeführt werden könnte. Die Abrogation wird als Methode nicht von allen Muslimen gleichermaßen in ihrer Legitimität anerkannt. Es gibt viele weitere Methoden der Interpretation der religiösen Texte. Man darf sich keineswegs auf die Abrogation allein beschränken. Natürlich werden sich Islamkritiker sehr häufig auf solche Texte stützen, die die offensive Ausbreitung des Islam oder die gewaltsame Bekämpfung der Gegner befürworten.

Ich glaube aber, dass eine solche Reduzierung auf die Abrogation sowohl methodisch als auch inhaltlich viel zu einseitig ist. Vielmehr sind die Unterscheidung zwischen interpretationsfähigen Versen und eindeutigen Versen, die Suche nach dem Rechtsgrund einer Bestimmung oder aber die Begründung einer Norm durch die ihr zugrunde liegenden Werte und Absichten zu intensivieren. All das sind Methoden, die man einbringen kann und muss. Es greift zu kurz, wenn man sagt, ein angeblich neuerer Vers – man weiß die konkrete Datierung ja ohnehin nicht immer genau – tritt endgültig an die Stelle eines älteren Verses. Eine solche Vereinfachung bringt den Prozess der Beschäftigung mit dem Koran und der Überlieferung nicht korrekt zum Ausdruck.

Ein weiterer Begriff, der für starkes Unbehagen sorgt, ist der Begriff Scharia. Was ist die Scharia und wie kann sie gedeutet werden?

Es ist ein Begriff, der eigentlich zu Unrecht Unbehagen bei uns hervorruft. In der islamischen Welt ist Scharia ein positiv besetzter Terminus. Man könnte ihn als Richtschnur für ein gottgefälliges Leben der Muslime deuten, d.h. eine Vorgabe von Regelungen und von Werten. Wir übersetzen Scharia häufig vereinfacht mit dem Begriff „Islamisches Recht“ und reduzieren den Inhalt bisweilen auf Körperstrafen im Zusammenhang mit Unzucht oder Diebstahl. Das ist aber damit nicht oder zumindest nicht nur gemeint. Es sind die Gebote und Verbote, die Gott für den Muslim setzt: Das reicht von den rituellen religiösen Vorschriften (also, wie vollziehe ich das Gebet, wie führe ich die Pilgerfahrt nach Mekka durch) über die Fragen der Familie und Ehe bis hin zu den Problemen des Vertragsrechts, also ein ganz weites Feld.

Und in diesem weiten Feld geht es um zwei wichtige Dinge: das Verhältnis des Menschen zur göttlichen Autorität und die zwischenmenschlichen Beziehungen. Zur Scharia gehören auch Fragen des Umgangs mit den Mitmenschen, die Regeln der Höflichkeit, bestimmte hygienische Anforderungen, Speisevorschriften, Bekleidungsvorschriften u.v.a.m. Wir sollten uns hüten, die Scharia zu verteufeln oder a priori als etwas Bedrohliches zu erfassen. Wenn wir freilich aus der Scharia nur die Dinge herauslesen und sehen, die für uns in der Tat bedrohlich sind, dann wird ein entstelltes Bild entstehen. Ich will ein Beispiel geben. Kein Mensch spricht heute über Sklavenrecht, das aber auch in der Scharia existiert, weil es Sklavenverhältnisse in der frühen islamischen Welt gegeben hat. Aber keiner kommt auf die Idee, das Sklavenrecht anwendbar zu machen. Ebenso ist der überwältigende Teil der Muslime, so auch die meisten Rechts- und Religionsgelehrten, in heutiger Zeit dagegen, Körperstrafen anzuwenden. Dass trotzdem immer wieder einzelne Muslime so etwas fordern, widerspricht dem Grundkonsens nicht. Es gibt auch in anderen Religionen religiöse Extremisten, die aus bestimmten Texten ihrer heiligen Schriften konkrete Taten ableiten wollen. Wir sollten die Angst vor der Scharia verlieren, weil sie weder eingeführt werden kann noch unser Rechtssystem verdrängen wird.

Wir müssen uns also nicht vor der Scharia fürchten?

Es geht nur darum, dass die Muslime die religiösen Freiheiten ausüben, die ihnen auf der Grundlage unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zustehen und ihnen durch die Scharia vorgegeben sind. Das ist legitim. Wie es Christen gibt, die ihre Religion streng befolgen, so wird es immer auch Muslime geben, die ihre Religion streng befolgen. Auch Atheisten können in unserer Gesellschaft ihre Grundüberzeugung ausleben, solange andere nicht in ihren Rechten behindert werden. All das muss in einem Staatsverband wie dem unsrigen möglich sein. Und unsere Verfassung bietet die geeignete Grundlage. Ich sehe also gar keinen ernsthaften Diskussionsbedarf hinsichtlich der Frage, ob die Scharia unsere Verfassung verdrängen wird. Unsere Werteordnung ist nicht verhandelbar. Vielmehr geht es darum, Muslimen im Rahmen unserer Rechtsordnung ein Leben nach ihren religiösen Vorstellungen zu ermöglichen. Auch nach der “klassischen” islamischen Rechtslehre hat sich der Muslim in einem nichtislamischen Land den Gesetzen des Landes unterzuordnen. Er hat die Gesetze des Landes einzuhalten. Und wenn er dies nicht will oder nicht kann, muss er dieses Land verlassen.

Die Scharia ist also so offen auslegbar, dass Muslime nicht in Konflikt mit Grundgesetz und Menschenrechten kommen?

Absolut. Jeder Muslim kann durchaus seine religiösen Pflichten erfüllen. Er kann nach seinen Vorstellungen leben, ohne in Konflikt mit unseren deutschen Gesetzen zu kommen. In dieser Weise sollten auch die Imame (Vorbeter) in den Moscheen predigen. Tatsächlich tun sie das in ihrer Mehrheit. Dass es da Ausnahmen und Fehlverhalten gibt, steht natürlich auch außer Frage. Wir sollten nicht immer nur auf die Ausnahmen schauen und sie in den Mittelpunkt des Interesses stellen. Wir sollten stattdessen die vielen Muslime sehen, die ein wichtiger und geachteter Teil unserer Gesellschaft sind und friedlich mit den anderen Bürgern leben und arbeiten.

Gibt es Punkte im islamischen Recht, die uns Impulse geben könnten?

Die islamische Religion hat auch Europa in vielfältiger Weise beeinflusst. Schauen wir uns in Dresden die neu gestaltete “Türckische Cammer” im Residenzschloss an, um einen diesbezüglichen Eindruck zu gewinnen.

Ein Beispiel aus der heutigen Zeit ist das islamische Bankwesen. Islamische Bankprodukte sind und bleiben sicher Nischenprodukte außerhalb der islamischen Welt. Das Besondere am islamischen Banksystem ist das Zinsverbot. Es werden keine Zinsen gegeben oder genommen, stattdessen werden Beteiligungsgewinne angestrebt. Das heißt, die Beteiligung spielt die entscheidende Rolle, deshalb heißen solche Banken in nichtislamischen Ländern sehr häufig Beteiligungsbanken. Der Kunde einigt sich mit der Bank auf ein bestimmtes gemeinsames Geschäft. Am Ende können Gewinne für beide, also für den Kunden und die Bank, aber auch Verluste stehen. Die Mitwirkung und Mitverantwortung spielen die entscheidende Rolle. Ein solches Geschäft lässt sich ohne Zinsen abwickeln. Das geschieht in vielen Ländern problemlos. Gerade in der Golfregion arbeiten viele Geldinstitute auf dieser Basis. Auch in Europa gibt es einen solchen Kapitalmarkt, so in London oder in der Schweiz. Wir sollten auf dieses Kapital und auf die entsprechenden wirtschaftlichen Möglichkeiten nicht verzichten. Schließlich wohnen mehr als vier Millionen Muslime in Deutschland, aber auch Nichtmuslimen steht es frei, zinslose Bankgeschäfte zu tätigen.

Gibt es eine Lieblingsstelle im Koran?

Ich erwähnte sie bereits: “Es sei kein Zwang im Glauben!” (Koran 2,256). Dieser Vers sollte für Muslime wie für Nichtmuslime Beachtung finden. Er besagt, dass mit Gewalt nichts erreicht werden kann, schon gar nicht in der Religion. Ich denke, dass jede Gewalt, die im Namen einer Religion erfolgt, irgendwann auf denjenigen zurückschlagen wird, der sie ausübt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieses Interview erschien am 20. März 2015 in der Probeausgabe der Leipziger Zeitung. Weitere Informationen zur neuen Wochenzeitung in Leipzig: www.leipzigerzeitung.net

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