"Hast du mal gesehen, wie die die Züge hinterlassen, aus denen sie rauskommen?" "Habe ich. Unmöglich! Und getürmt sollen außerdem noch welche sein, aus so einer Unterkunft .... Also, da läuft ja wohl einiges schief!" "Das kann man wohl laut sagen! Da muss man doch mal ..." Den Rest will ich schon nicht mehr hören.

Zwei Frauen Mitte fünfzig, adrett frisiert, Brille, Brosche und Bonita-Bluse, außen hui und innen Heidenau light, unterhalten sich in der Bahn über die Lage in Deutschland, über den Flüchtlingszustrom sowie die ganze vertrackte Lage und schnappen nicht ein einziges Mal nach Luft, während sie in ihrer Selbstgerechtigkeit ertrinken.

“Da muss man doch mal … !”, hallt es in mir nach.

Tja, da muss man doch mal. Ich zum Beispiel “muss da mal” an eine kleine Begebenheit im vergangenen Dezember denken, am Leipziger Hauptbahnhof, der in voller Weihnachtsmontur erstrahlte: Ein kleines Mädchen übergibt sich in hohem Schwall auf die glatten Fliesen der unteren Bahnhofsebene. Die Mutter kümmert sich naturgemäß sofort um die Kleine, tröstet sie, wischt ihr den Mund sauber. Unterdessen rutscht ein unglücklicher Passant filmreif auf dem Erbrochenen aus. Steht wieder auf und blickt (auch naturgemäß) nicht sonderlich enthusiastisch um sich.

Da geht das kleine, noch ganz grünliche Mädchen auf den Mann zu und entschuldigt sich zerknirscht und kleinlaut. Rührend geradezu. Unterdessen jedoch bleibt eine Frau stehen und herrscht die Mutter des Mädchens im Ilse-Koch-Timbre an: “Also wissen Sie, da hätte man doch auch mal was sagen können …!”

Sie sind überall: Diese “Da-hätte-man-doch”-Sager, diese “Da-müsste-man-doch-mal”-Forderer, die ständigen “Transparenz- und Ordnung-Haben-Wollenden”, diese nur aufmerksam Werdenden, wenn der Mitmensch sich anschickt, einen Fehler zu machen oder gar – also, nein! –  schon einen gemacht hat. Denen man diese Art Anstrengung leider schon von weitem ansieht, weil es tatsächlich schlichtweg anstrengend sein muss, aus jeder Spielplatzkeilerei ein Kapitalverbrechen zu machen.

Diese Spezies Mensch hinterlässt bei mir seit jeher eine riesige Ratlosigkeit.

Warum wirken die immer so, als hätten die alles im Griff? Warum merken die nie mit stockendem Herzen, dass sie gerade den roten Lieblingspullover in der hellen Wäsche mitwaschen? Warum glaubt man bei denen nie, dass sie sich jemals verliebt bis unter die Haarwurzeln mit dem Liebsten in einem Passbildautomaten herumgedrückt haben? Warum haben die nie einen Fleck auf der Bluse, nie einen Floh im Ohr, nie einen Flachmann hinter den “Brüdern Karamasov” … ? Oder vielleicht doch?

Sicher. Diesen unangenehmen Typus gab es schon immer. Liegt in Manchen eben so drin. Heute aber, in Zeiten des allerorten erschallenden Rufes nach Flexibilität und Pragmatismus angesichts des Flüchtlingsstroms, der sich aufgrund irrwitziger Machtgeilheit narzisstischer Weltenlenker, die unseren Oberaufpassern bedauerlicherweise nicht ganz so sehr in seinem innerlichen Schrebergärtchen zu stören scheinen, in Gang zu setzen wusste, muss der Berufsredliche besonders anachronistisch wirken.

Sich über Schlägereien in Flüchtlingsunterkünften aufzuregen oder über die mangelnde Ordnung in den vollgestopften Zügen von Budapest und die vermeintliche oder tatsächlich vorhandene Undankbarkeit der Einreisenden zu bejammern, das grenzt schon an ein gehöriges Maß an Schlichtheit und Bauchnabelismus. Anders gesagt: Wer das eigene Lebenskonzept ungefiltert an das des Mitmenschen, gar an das von Flüchtlingen legt, der erwartet auch, dass der Stadtplan von Wurzen in New York City funktioniert.

Wenn das nur bescheuert wäre, ich regte mich kaum auf.

Bescheuert sein allein ist nicht gegen das Gesetz. Aber die professionell Rechtschaffenen sind nervtötend, energiezehrend und – was das Schlimmste ist – leider gar nicht so selten.

Ich habe euch so satt, ihr Hilfssheriffs, ihr Bewerter, ihr Zurechtweiser, ihr selbstgerechten Immer-alles-richtig-Macher, Ihr Simpel-Seelen, Ihr Jeden-schönen-Gedanken-durch-Reglement-Knebelnden, Ihr mit der Insuffizientenverfügung, was Kopf und Herz angeht:

Legt doch den Finger mal wieder an den Vaddi oder sonst wohin, aber nicht ständig in die schwelenden Wunden des Mitmenschen. Euch wird schlecht …? Soll mir recht sein.

Aber bitte allen Bescheid sagen und am besten schon vorher aufwischen!

Geht doch.

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