In einem durchaus berechtigten Kommentar fragt Christian Wolff auf L-IZ.de am Vorabend des „Schicksalstages der Deutschen“, wo das Leipziger Bürgertum bleibt, wenn es um den Widerstand gegen neu-faschistische und fremdenfeindliche Tendenzen in meiner Heimatstadt geht. Dazu vielleicht zwei Einstiegsthesen eines hier Geborenen. Es, dieses Bürgertum, hat sich nie wirklich für so etwas interessiert, da es anderes zu tun hatte. Und: Es gibt kein solches „Bürgertum“ in Leipzig. Die „Mitte“ ist eine eingebildete, welche sich niemals wirklich offen einmischt. Bis heute.

Der 9. November ist ein durchaus interessanter Tag. Und aufgrund der geschichtlichen Ballung prägender Ereignisse verschiedenster Art zum „Schicksalstag“ geworden. Die Ermordung des frei gewählten Nationalrates Robert Blum 1948 ist den Liberalen noch gut im Gedächtnis. Die „Novemberrevolution“ in Berlin 1918, die Ausrufung der ersten deutschen Republik durch Philipp Scheidemann, parallel zur ersten Räterepublik, verkündet durch Karl Liebknecht, der „Hitler-Ludendorf-Putsch“ von 1923 in München bewegt die Linken. Auch der Gründungstag der SS, in Leipzig zu wenig beachtet vielleicht, die Entfernung des Denkmals von Felix Mendelssohn Bartholdy vor dem Leipziger Gewandhaus am 9. November 1936. Und vor allem die „Reichskristallnacht“, in welcher auch in Leipzig die Synagogen brannten, Menschen gehetzt wurden und der Neid sich rassistische Bahn brach.

All dies ist der 9. November, im Jahr 2015 zufällig ein Montag.

Und immer hat das „Bürgertum“, die sogenannte „Mitte der Gesellschaft“ eifrig den Mund gehalten, sich hinter den Gardinen versteckt und sich für das missbrauchen lassen, was angebliche Mehrheitsmeinung war. Oder besser im Nachgang wurde. Und es dennoch fleißig kommentiert, „begleitet“ und „moderiert“. So auch nach 1989 in Sachsen.

Und dann rannten doch noch immer alle mit, nachdem sich andere hatten köpfen, erschießen, bespucken und verfolgen lassen. Das waren meist „die Anderen“: Juden, Linke, Liberale. Veränderungswillige – böse Revolutionäre eben. Meist zu früh dran, oft zu wenig an Geld interessiert, dem Ganzen verpflichtet. Irgendetwas änderte sich und „die Mitte“ schwamm mit, das „Bürgertum gewann“, wenn auch nur scheinbar.

Immer dann, wenn also die Angst regierte, sich die Dinge änderten, war das Stillhalten gleichzeitig Zustimmung und ein Garant für Verdienst in Geld und Orden. Und dennoch änderten sich die Wege.

War das Abwarten, wie sich alles so entwickeln würde und wie man darin weitermachen könne, demnach ein Teil des Kommenden? Ja. Denn wenn etwas „Mitte“ und in diesem Sinne “bürgerlich” ist, dann dies – benutzbar, ängstlich, auf Ruhe im Auge des Sturms aus. Im Nachgang immer verdichtet zur „Entscheidung der Deutschen“, die sich doch eher vor den Entscheidungen drückten. Und entscheiden ließen, in Kriege zogen, von Vernichtungen nie etwas wussten und den Tod derer lustvoll betrauerten, die zu früh getroffen wurden. Später. Wenn der Sturm vorüber war.

Sicherheit ist das Mantra. Veränderung ein Feind.

Vielleicht nicht grundlos also reihen sich der 9. November 1967, mit der Entfaltung des Spruches „Unter den Talaren – Muff von 1.000 Jahren“ bei der feierlichen Amtseinführung des neuen Rektors der Hamburger Universität ebenso in Sachsen ein, wie der Todestag des RAF-Mitgliedes Holger Meins nach einem 58-tägigen Hungerstreik sieben Jahre später hier geistig nie ankam. Und der Mauerfall am 9. November 1989, der wie ein Monolith in der Landschaft steht. Letzterer Fall erstmals von einer offensichtlich zu gut ausgebildeten Proletarierschicht angeführt und erfolgreich gegen ein allzu sichtbar marodes System reaktionärer Spießbürger sozialistischen Zuschnitts.

Hier ließ sich ein erstarrter Betonblock schneller und klarer angesichts der Absurdität des Geschaffenen zerschlagen, als die danach errichteten Wände aus Gummi der gleichen Gestalten um Stanislaw Tillich und Co.. Und es waren zumindest anfangs durchaus „Gutmenschen“ am Werk – im Gegensatz zu heute, wenn Pegida in Dresden eben genau jene Leute verunsichern kann, die wirklich glauben, dies ist nun “das Volk”. Denn sie waren ja nie dabei, nie ein Teil desselben.

Auf der Straße ist es nicht. Wo also ist das “Bürgertum”?

Oben. Zumindest gefühlt. Da muss man nicht rufen „Kommt zu uns herab“ – sie haben schon wieder Angst und wollen ihre Ruhe im “Asylanten-Sturm”. Da geht es eher um den Parkplatz in der Innenstadt, um Geld verdienen, die eigene Existenz sichern. Und auch um Gutes – denn nicht alle wollen sich exponieren, herzeigen, wie “gut” sie sind – selbst das ist schon wieder zum Angstbereich hinzuaddiert. Wer auffällt, bedeutet Ärger.

Menschen, die man auf keinen Fall auf der Straße sehen wird, die auf keinen Fall Flüchtlinge aufnehmen werden (oder es tun und nie darüber reden werden), die immer auf der „richtigen Seite“ stehen wollen. Manchmal scheinbar auch in dem Denken: Da „prügeln“ sich mal wieder die Proleten auf „der Straße“, während wir das Geld verdienen. Manchmal wär es wirklich gut, mehr von jenen auf der Straße zu sehen.

Der “Rest” sieht sich am Montag, den 9. November, eben da. Nicht gegen Legida und auf keinen Fall dafür. Dafür ist dieses Aufbegehren zu erbärmlich und zu sehr „bürgerlich“, reaktionär und zukunftsfeindlich, wie es auch schon die Nazis, so manche Sozialisten und Stalinisten waren. Voller Angst gegenüber jeder anderer Meinung. Nicht gegen irgendwen also sollte man an einem 9. November demonstrieren. Sondern für … den Gedanken, dass immer genau der nächste Tag von uns selbst bestimmt wird. Auch wieder jetzt und wieder hier. Die Flüchtlinge jedenfalls sind unser kleinstes Problem. Soziale Ungleichheit auf der ganzen Welt wie auch hier unser größtes.

Vielleicht demonstrieren wir also endlich mal für etwas? Immer am nächsten Tag. Am besten im Alltag. Aber gern auch mal wieder auf der Straße.

Zum Kommantar von Christian Wolff

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Es gibt 2 Kommentare

Aber sie zeigen unmißverständlich die “Haltung” derjenigen die sich als die wirtschaftliche”Führungsschicht” ansehen. Eine zutreffende Analyse der sogenanten “Mitte der Gesellschaft”!

Der Titel “Kommentar: Wo bleibt das Bürgertum Leipzigs? Eine Antwort auf Christian Wolff” erschreckte, denn eine Antwort auf C.W. gibt es nicht.
Die Gedanken unter diesem Titel sind trefflich und befreiend – haben sie doch nichts, aber auch gar nichts mit C.W zu tun.

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