„Dahergerede“ nennt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler in einem Artikel in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ die Einlassungen von Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk zur Flüchtlingsfrage. Beide Philosophen stimmten in der ihnen eigenen Diktion in den Chor derer ein, die die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel als „Staatsversagen“ kritisieren und die sofortige Sicherung der nationalen Grenzen gegen den Übertritt der aus Kriegs- und Notgebieten Geflüchteten auf deutsches Territorium fordern: „Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben.“ (Peter Sloterdijk) und „Es herrscht in der Politik eine moralistische Infantilisierung.“ (Safranski)

Der Bundesregierung wirft Safranski vor, ohne Befragung der Bürgerinnen und Bürger Deutschland mit Flüchtlingen „geflutet“ zu haben. Nun bin ich mir ziemlich sicher, dass die beiden Philosophen sich nicht auf dem Hintergrund eines Besuches in einer Erstaufnahmeeinrichtung oder von Gesprächen mit Geflüchteten über deren Geschichte, Hoffnungen und Ängste geäußert haben. Auch nehme ich nicht an, dass beide mit einer oder einem der hunderttausenden ehrenamtlichen Helfer/innen oder einem in den Sozialämtern engagierten Angestellten gesprochen haben. Denn spätestens da hätte einem Safranski eine Redewendung wie „moralistische Infantilisierung“ im Halse stecken bleiben müssen.

Muss sich eine pensionierte Grundschullehrerin, die Woche für Woche Sprachunterricht in einer Asylunterkunft erteilt, mit einer solchen Häme aus dem philosophischen Ohrensessel heraus gesprochen beleidigen lassen: Was du da machst, ist nichts anderes als ein kindisches Gutmenschengetue (freie Übersetzung von Safranskis Redewendung)? Was treibt hochgebildete Menschen dazu, so verächtlich über die „daherzureden“, die durch ihr praktisches Tun die Grundwerte hochhalten, auf die wir diejenigen, die bei uns Zuflucht suchen, verpflichten wollen? Und was veranlasst einen Peter Sloterdijk dazu, der Politik „Souveränitätsverzicht durch Überrollung“ vorzuwerfen?

Ist es die in Worte gefasste Sprachlosigkeit der Mitte, über die sich Giovanni di Lorenzo auf der Titelseite der „ZEIT“ Gedanken macht – oder doch eher ein ins Leere gehendes intellektualistisches Gequatsche, das vor allem zwei Defekte in der Mitte unserer Gesellschaft aufdeckt: den Niedergang der politischen Bildung und ein Beziehungsverlust zu den Menschen, die Gott sei Dank in ihrer erdrückenden Mehrheit sich als demokratisch gesinnte Bürgerinnen und Bürger für die verschmähte Willkommenskultur engagieren.

Die “sprachlose Mitte”

Ähnliches ist auch von dem Dahergerede zu sagen, das in den öffentlichen Debatten unter Spitzenpolitikern um sich greift und sich in Talkshows endlos reproduziert. Dort bewegt man sich in Sphären, die mit den Problemen, die jetzt zu lösen sind, relativ wenig zu tun haben. Ob Angela Merkel morgen noch Bundeskanzlerin ist, ob Horst Seehofer noch zu einer Steigerung der „Herrschaft des Unrechts“ fähig ist, ob die AfD bei den kommenden Landtagswahlen 10 Prozent und mehr Stimmenanteil bekommt oder doch schon vor dem 13. März 2016 in ihrem deutschtümelnden, letztlich für rechtsextremistische Parteien so typischen korrupten Brei versinkt – das alles ist ziemlich nebensächlich angesichts der Aufgaben, die jetzt angegangen werden müssen. Warum vermag die „sprachlose Mitte“ das nicht so zu benennen?

Eine Vermutung: Viel zu viele lassen sich von der AfD und den ach so besorgten Pegida-Bürgern treiben und blenden, bis sie selbst in deren egomanischer Gedankenwelt eintauchen und sich als Resonanzboden für deren Parolen betätigen – und das, obwohl wir froh darüber sein können, dass der tragende Teil unserer Gesellschaft weder sprach- noch tatenlos ist. So sollten auch Philosophen darüber reden, dass die Geflüchteten, die jetzt unter uns leben und noch zu uns kommen werden, vom ersten Tag an spüren, dass wir sie in unsere Gesellschaft aufnehmen, integrieren wollen (eine Umschreibung des schönen, aber schon längst vom Zynismus verzerrten Wortes „Willkommen“).

Vielleicht sollten wir einen Moment daran denken, dass das Schlimmste, was einem Kind widerfahren kann, die elterliche Botschaft ist: Eigentlich wollten wir dich nicht. Was aber wird aus Menschen, die wochenlang unter dem Eindruck leben: Wir sind in dieser Gesellschaft nicht erwünscht? Wie soll so Vertrauen wachsen, die Grundlage jeder Integration? Wie soll sich so ein neues Selbstbewusstsein entwickeln bei denen, die uns eines Tages Autos reparieren, pflegen oder per Taxi zum aus Eritrea stammenden Arzt fahren werden?

Krieg statt Frieden und Investitionen?

Nun weiß ich auch, dass nicht alles rund läuft und Entwicklungen in sich widersprüchlich sind. Es rächt sich bitter, dass der Westen im Nahen Osten in den vergangenen 25 Jahren keinen nachhaltigen Friedensprozess in Gang setzen konnte, sondern kriegerische Konflikte geschürt hat. Ja, unter den Geflüchteten gibt es die zwei, vielleicht auch fünf Prozent, die mit kriminellen Absichten unter uns leben, die nicht bereit sind, sich auf unsere Gesellschaft einzulassen. Auch haben etliche ehrenamtliche Mitarbeiter/innen aus Frustration über das Verhalten von Geflüchteten enttäuscht aufgeben. In den vergangenen Monaten wurden die Schwächen einer ruinös zersparten öffentlichen Verwaltung und Sicherheit schonungslos aufgedeckt.

Ebenso zwingen uns die Geflüchteten, endlich den sozialen Wohnungsbau zu reaktivieren, unsere Bildungseinrichtungen, insbesondere die Grund- und Hauptschulen, zu erneuern, Sprachunterricht sofort zu ermöglichen und Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen. Dafür muss jetzt kräftig investiert werden und darum muss gestritten werden. Aber: Tag für Tag sind hunderttausende Menschen damit beschäftigt, den geflüchteten Männern, Frauen, Kindern freundlich zu begegnen, sie zu begleiten und zu integrieren. Das alles ist mühsam, vieles wird improvisiert, manches scheitert – aber das meiste funktioniert. Darüber müssen wir sprechen, es wertschätzen, anerkennen und fördern. Merkwürdig nur, dass das bei den Dauer-Daherrednern ebenso wenig eine Rolle spielt wie der doppelte Skandal in den vergangenen Monaten: die unverhohlen propagierten, hasserfüllten, den Menschen entwertenden Parolen, in deren Windschatten die Exekuteure der Straße über 1.000 Gewaltakte gegen Asylunterkünfte und Geflüchteten verübt haben, und die absolut lächerliche Aufklärungsquote dieser Straftaten.

Dabei wäre das das Erste, was man von einem Intellektuellen erwarten kann: Ein Aufschrei aus der sprachlosen Mitte, einen „energischen Aufstand“ für Menschenrechte, den der gerade verstorbene Publizist Roger Willemsen für überfällig erachtete. Was uns das lehrt? Die „sprachlose Mitte“ ist so sprachlos nicht. Sie redet – nur kann an ihrem Reden oft nicht mehr die Haltung erkannt werden. Haltung hat aber vor allem damit zu tun, wie ich dem Nächsten begegne, welche Botschaften ich ihm vermittle und welchen Wert ich der Demokratie, der Freiheit, der Würde des Menschen zumesse und wofür ich eintrete.

Dieser Blogbeitrag wurde angeregt durch vier Artikel in der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ Nr. 7/2016: Giovanni di Lorenzo, Die sprachlose Mitte (Seite 1), Herfried Münkler, Wie ahnungslos kluge Leute doch sein können (Seite 7) – Jörg Bong, „Jörg, hier ist Frohsinn“ (Seite 39) – Thomas Assheuer, Die Konterrevolution (Seite 45).  Ein dankbarer Gruß an „DIE ZEIT“ zum 70. Geburtstag.

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Es gibt 2 Kommentare

Gut geschrieben.
Bei manch dummen Geschwätz würd ich mir allerdings Sprachlosigkeit schon fast wünschen.

Bei Sloterdijk wundert mich seine Wortwahl schon etwas. Vielleicht wird er jetzt alt und verstockt.

In der beschriebenen sprachlosen Mitte sehe ich nur die üblichen Neofeudalisten (Nachfolger der Neoliberalen), die von Mutti weiterhin die Bitte-nicht-stören-Politik erwarten, bei welcher der Staat geräuschlos zu funktionieren und ein dauerndes Angebot von Latte macchiato und Superbenzin zu garantieren hat. Wenn jedoch (angeblich) ein Staatsversagen droht, sind die Flüchtlinge einfach wieder vor die Grenze zu setzen – “mir doch egal”, denkt der Neofeudalist, der zudem die vielen Helfer als Naivlinge (wenn schon nicht als “Gutmenschen”) herabwürdigt.

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