Erinnern Sie sich noch? Letztes Jahr zum Valentinstag ging es den Baumärkten richtig gut. „50 Shades of Grey“ kam gerade in die Kinos und traf selbst den bodenständigsten einheimischen Heimwerker im Innersten. In Deutschland wurde plötzlich reihenhausweise geknüpft, gebunden, getackert. „Er klammert ein bisschen“ war plötzlich keine Beschwerde mehr in Unter-vier-Augen-Frauengesprächen. Ein Marketingmysterium!

Ich weiß, man ist echt old school, ein Wolkenkuckucksheimkind, wenn man von einer Welt träumt, in der die Menschen zu Tausenden beim Kinostart der „Buddenbrooks“ anstehen. Eher würde sich ein CSU-Politiker zu seinem Doppelleben bekennen, als dass dies die Wirklichkeit abbildete.

Vielsagend und ein bisschen peinlich war es aber trotzdem, dass dieser hanebüchene Sadomasofilmchen-Kompromiss einen solchen Hype heraufbeschwört. Mehr Frauen hätte man zwar noch in die Kinos gekriegt mit „50 Dates mit Patrick Swayze“, aber für die Männer muss schließlich auch ein bisschen handfest gevögelt und verkloppt werden. Das geht dann auch für beide. Passendes Equipment als Merchandising Produkt gab’s damals gleich fast neben jeder Kasse.

Modernes Märchen hin, altbackener Kram her, aber wäre die Welt nicht farbenfreudiger, wenn 21-jährige Studentinnen 26-jährige Herren, die sich ihnen als Multimillionär (!) vorstellen, erst einmal gepflegt fragten, wie lange dessen letzte Dosis Crystal zurückliegt?

So blind kann doch nicht mal Liebe machen – vorausgesetzt, man kommt überhaupt auf die Idee, dieses Wort mit solch gearteter Unterhaltungsliteratur gedanklich zu verknüpfen. Man sollte auch den ohnehin überfrachteten Valentinstag nicht mit so etwas noch kommerziell belasten.

Dabei könnte Valentinstag doch auch schön sein, wenn er schon sein muss. Man könnte zum Bespiel nach Hause schleichen und den Liebsten überraschen, indem man ihm verheißungsvoll mitteilt, man habe „Professor Mamlock“ aus dem Jahr 1961 ausgeliehen und was zu essen eingekauft. Der Liebste wird dann sagen: „Herrschaftszeiten, Professor Mamlock! Den hatte ich ja fast vergessen! Was habe ich den gern gelesen damals“.

Dann gerät man sich ein bisschen in die Haare über die Rolle von Markus Wolf für die Geschicke der DDR, obwohl man damit leicht abdriftet von der eigentlichen Thematik. Man versöhnt sich darüber schnell im Bett und geht dann mit einer Bottle von dem, was gerade noch da ist, eng umschlungen um den Block, um sich etwas später mittels einer Taschenlampe auf einer splittrigen Holzbank im Friedenspark mit verteilten Rollen (Er: Dr. Hellpach, Sie: Dr. Hirsch) aus dem braunen Reclamheftchen vorzulesen.

Man wird schnell merken: Wer Professor Mamlock sagt, wird nicht lange von anderen jüdischen Ärzten schweigen. Und schwuppdiwupp könnte man mit Tucholsky nordwärts reisen nach Rheinsberg. Das „Bilderbuch für Verliebte“ im Gepäck.

Dort ist bekanntlich auch ein junges Paar zu einem unbeschwerten Liebeswochenende unterwegs, auch Anfang zwanzig, sie ebenfalls Studentin – wie die junge Protagonistin in „Shades of Grey“ – und doch ist alles ganz anders:

Tucholskys Claire hat tatsächlich existiert. In Wirklichkeit hieß sie Else Weil und war nicht nur seine junge, kluge, lebhafte Ehefrau, sondern eine der bemerkenswertesten fortschrittlichen Frauen der Weimarer Republik: eine der ersten Studentinnen, selbständige Ärztin und unbekümmert gegen die strikten Konventionen Anliebende, zu aller Albernheit bereit:

„Schwer seufzend packten sie aus, räumten ein. ‚Ja, ich bin nu soweit. Jetzt frisiere ich mich, un dann gehe ich spaziers. Un du?’ ‚Das überlasse du nur mir; es wird dir dann seinerzeit das Nötige mitgeteilt werden.’ Der Stil war im Großen und Ganzen einheitlich verzerrt. Sie sagten sich häufig Dinge, die nicht recht zueinander passten, nur um diese oder jene Redewendung anbringen zu können, den andern zu irritieren, sein Gleichgewicht zu erschüttern.“

Und doch – oder gerade deswegen ist alles klar zwischen den beiden, denn:

„Ein Seitenblick genügt: all deine Empfindungen sind hier noch einmal, aber umkleidet mit dem Reiz des Fremden. Wozu noch sprechen? – Wir wissen ohnehin. Wozu versichern, betonen? – Wir wissen, wir wissen. Und das Erlebnis und ich und sie – das gibt einen Klang, einen guten Dreiklang.“

Mit Verlaub: Mit diesen Zeilen wird jeder Tag zum Valentinstag. Vor allem wenn man sich nicht darüber hinwegtäuschen lässt, dass das in „Rheinsberg“ zum Teil infantil klingende Bettgeflüster irgendwelchen Personen entstammte, denen nichts anderes einfiel oder die es nicht anders vermochten. Eben DASS sie es konnten, macht den besonderen Reiz. Bei Tucholsky weiß man das zur Genüge, über Else Weil aber ist bedauerlicherweise noch immer zu wenig bekannt. Allein ihre Veröffentlichungen in der WELTBÜHNE 1920 sind nicht durch ihre Klarsichtigkeit beeindruckend, sondern auf fast bedrückende Weise modern: „Die Krankenkassen scheinen in erster Reihe für sich selbst da zu sein. Wenn sie ein Zehntel der Sorgfalt, womit sie ihre Verwaltungsgebäude, Kompetenzen, Instanzen, Büros und Formulare entwerfen, auf den Patienten und seine Unterstützung verwendeten, wäre allen wohler.“

Da es in den folgenden Jahren vielen wohl noch wohler ergangen war und es 1933 einigen vermutlich zu wohl, verlor Weil als jüdische Ärztin ihre Approbation und 1942 auf dem Transport nach Auschwitz oder in einer der dort befindlichen Gaskammern ihr Leben. Da war Tucholsky schon sieben Jahre tot.

Was das alles mit dem Valentinstag zu tun hat? Eine Menge: Durch Frauen wie Else Weil können Frauen heute eine ganze Menge mehr selbst entscheiden: Ob sie Medizin studieren wollen, „Fifty Shades of Grey“ lesen wollen oder beides (lassen). Ob sie mit dem Liebsten unverheiratet übers Wochenende wegfahren wollen, ob sie diesen zur Blumenübergabe zu bestimmten Anlässen nötigen oder nicht, ob sie sich beim Bachelor hinten anstellen wollen oder lieber nicht. Sie haben die Wahl, klug und selbstbestimmt zu sein oder lieber nicht. …

Tucholsky, der Else Weil unter keinen so rühmlichen Umständen verlassen hatte und dies später bedauern sollte, schrieb über sie als „klügste Frau, die ich kennengelernt habe. Ich war ein bisschen mit ihr verheiratet.“

1924 wurden die beiden geschieden. Am Valentinstag wohlgemerkt.

Auch eine Art von Romantik.

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