„Was haben Sie eigentlich gegen das ‚Clever sein’?“ fragt Konrad mich zu Beginn einer Deutschstunde. „Ja, genau!“ pflichtet ihm Maria bei, unterbricht kurz das Nägelkauen. Ich weiß gar nicht, was ich im ersten Moment sagen soll, so absurd scheint mir das Theater morgens um 8. In einer Schule irgendwo in Leipzig. Cleverness. Im Sport beispielsweise sei das doch eine Super-Haltung. Bevor der gegnerische Stürmer, durchgebrochen, frei zum Schuss kommt, foult man ihn möglichst weit vor der eigenen Strafraumgrenze. Ein taktisches Foul. Clever. Keinem, keinem meiner Jungs und Mädels fällt aber auch das Oxymoron auf.

„Taktisches Foul“: Klingt wie „präventiver Hamsterkauf“ oder „zielorientierte Kunst“. Nachdem ich diese Wendungen an die Tafel geschrieben habe, nach der stilistischen Auffälligkeit frage, Taschenkramen, Haardurchfahrten (Mädels) und Podolski-Grinsen (Jungs) ernte, fällt mir Goethes „Werther“ ein. „Hä, Werther??“ schaut mich Martin aus der zweiten Reihe mit einer glazialen Serie auf der Stirn an. Hätte er nicht gelesen, der habe immer so komisch geredet. Und dann überlässt er die Alte auch noch dem anderen da. Nicht clever. Er wolle zum Zoll – oder zur Polizei, da verdiene man allerdings weniger, da habe man keine Zeit für die Natur. „Höchstens für die Natur des Menschen! Das haben Sie doch immer gesagt, dass die wichtig ist, die Natur des Menschen!“ triumphiert er, als wolle er gleich den Grimme-Award für sich beantragen. Allgemeines Gefeiere ringsum. Leicht subversiv, deute ich es.

„Ich denke“, setze ich an, „dass Cleverness und Empfindsamkeit sich ausschließen.“ Ziemlich uncool, denke ich. „Nicht clever, Herr Jopp, ich hab mal gegoogelt: ‚Clever: Gewitzt und klug’ steht hier.“ Hm. War er nicht, Goethes Held. „Nicht ‚ergebnisorientiert’ genug?“ Allgemeines Nicken. Ziel verfehlt, knirsche ich innerlich verzweifelt, blicke zum Fenster. Gegenüber schaut eine Frau, auf ein rotes Kissen gestützt, aus dem Fenster. „Guckt mal alle da hinüber. Seht Ihr diese Frau da?“ Ja und, zucken sie mit den Schultern. „Wo liegt ihre Zielorientierung? Ist die ‚clever’?“ Der sei langweilig, meinen sie, außerdem sei sie alt. Aus irgendeinem Grund denke ich an meinen früheren Lehrer im Fach „Werken“, der bei einzuschlafen drohenden Schülern mit seinem Schlüsselbund warf, bis es 20 cm vor dem kognitiven Delinquenten auf der Bank klirrte. Auch keine Lösung. (Zudem sei an dieser Stelle die Frage erlaubt: Was tut man, wenn der Schüler den Schlüssel zurückwirft?) Stattdessen greife ich zum Buch und fange an zu lesen.

„Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich dem süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken, daß meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken.“

Paradox sei das Ganze, meldet sich Marie zu Wort. Leise. Und widersinnig sei es auch, unlogisch. Vor allem der letzte Satz. So etwas ist überhaupt nicht … „Produktiv?“ – „Genau, Sie sagen es.“ Was „produzieren“ wir denn bei den Dingen, die uns wirklich Spaß machen? Die uns „zu Frieden“ bringen, bohre ich weiter. Zufrieden machen. Irgendwie gewinne ich an Tiefe. Der Kopf wird klarer.

„Wenn ich was davon habe?“ schaltet sich Konrad wieder in das Spielgeschehen ein. „Ich machen kann, was ich will?“ Ich verneine. „Andere das machen, was ich will?“ Ich verneine heftiger. „Aber das ist clever!“ – „Gibt es ‚clevere’ Kunst?“ Das ist doch etwas Anderes, reden alle durcheinander. Kunst wird nicht „produziert“. Und Kultur. In diesem Zusammenhang sei „clever“ überhaupt kein Thema. Passt da nicht hin, betonen sie einhellig. Dazu braucht man Zeit, ruft Marie, misst sich an sich selbst, bekräftigt Paul, schafft etwas für Menschen, antworten Caro und Vincent im Chor. Echt tiefsinnig, meine ich. „Ihr seid jetzt mit dem Herzen dabei!“ Sie schauen ungläubig. „Glaubt Ihr, dass Ihr euch gerade ‚clever’ verhalten habt?“ Komische Frage, murmelt Konrad.

Natürlich nicht. „Das hilft eben nur manchmal. Wenn es nicht anders geht.“

Ich lächle. Die Frau gegenüber beginnt ihren Platz am Fenster zu räumen. Und ins Pausenklingeln hinein winken wir ihr alle zu. Freundlich, nicht clever.

Das Bildungsalphabet erschien in der LEIPZIGER ZEITUNG. Hier von A-Z an dieser Stelle zum Nachlesen auch für L-IZ.de-Leser mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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