Seit 2009 wird in der Leipziger Thomaskirche disputiert, treffen sich zwei hochkarätige Redner, um in der Kirche zu wichtigen Aspekten der Zeit dezidiert ihre Standpunkte zu vertreten. Ebenso wie Luther und Eck 1519 bei der ersten, der geschichtsträchtigen Disputation auf dem Leipziger Schloss. 2016 sorgt nun der Katholikentag dafür, dass es beinah wieder ein bisschen ist wie damals. Aber nur beinah.

Denn es war ja 1519 die römische Kirche, die sich durch Luthers Thesen herausgefordert fühlte, auch wenn man dann mit Dr. Johann Maier von Eck einen Theologen aufbot, der Luthers Thesen mit dem damals gültigen wissenschaftlichen Werkzeug beikommen sollte. Und Eck hatte sich zuvor schon als einer der heftigsten Gegner Luthers profiliert. Die Disputation zu Leipzig ging dann freilich so aus wie erwartbar: Weder die römische Kirche in Person des Theologen aus Ingolstadt wich einen Fußbreit, noch nahm Luther Abstand von seinen Thesen, die er ja mittlerweile sehr gut begründen konnte.

Das Ergebnis war bekanntlich das Schisma: Jene Länder, die der starren Position des Papstes folgten, blieben römisch-katholisch. Die Fürsten, die Luthers Reformvorschläge für richtig hielten, führten die reformierte Lehre ein.

Doch so verbissen wie 1519 stehen sich die beiden großen christlichen Kirchen heute natürlich nicht mehr gegenüber. Man redet schon längst wieder miteinander. Und es ist gar nicht mal gesagt, dass es völlig unvereinbare Standpunkte gibt, wenn sich die beiden Spitzenvertreter der Kirchen in Deutschland zur Disputation treffen. Da ist der Katholikentag ein gewisser Glücksfall, denn damit sind sie beide – Reinhard Kardinal Marx, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, und Landesbischof  Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der EKD – in Leipzig.

Und sie sind auch beide der Einladung der Disputationsveranstalter gefolgt, auch wenn sie beide mitteilen ließen, dass ihnen erst mal keine diskutanten Thesen zum Thema „Recht – Gerechtigkeit – Rechtfertigung“ einfielen. Bei vergangenen Disputationen hatten sich die Teilnehmer stets bemüht, ihre Standpunkte möglichst streitbar und deutlich zu formulieren. Das Publikum wusste also schon vorher, in welchem Feld sich die beiden Kontrahenten tummeln würden.

Diesmal wird es vielleicht etwas anders sein. Da wird jedenfalls die Aufgabe, die beiden streitbaren Akteure auch ein bisschen herauszufordern, bei Dr. Heike Schmoll liegen, Journalistin der FAZ und dort – neben Bildung – auch fürs Theologische unterwegs.

Natürlich wird es trotzdem eine Gesprächsgrundlage geben. Die haben Dr. Ulrich Brieler, Leiter des Referats Wissenspolitik der Stadt Leipzig, und Britta Taddiken, Pfarrerin der Thomaskirche, gemeinsam erarbeitet. Sie haben sich dazu in die Bergpredigt vertieft, die ja nun irgendwie etwas mit dem Motto des aktuellen Jahres in der Luther-Dekade zu tun hat: „Reformation und die Eine Welt“. Da habe man auch mal kurz daran gedacht, auch andere Religionen mit einzubeziehen, bestätigt Britta Taddiken. Aber dann habe man sich doch lieber für die einmalige Chance entschieden, die Spitzen der beiden Kirchen in Leipzig ins gemeinsame Gespräch zu bekommen.

Und natürlich haben Brieler und Taddiken auch nicht die gesamte Bergpredigt in Thesen filetiert, sondern sich auf die Seligpreisungen konzentriert. Obwohl sie dazu eine dieser neueren Bibelübersetzungen zur Grundlage genommen haben, wo von Seligpreisen nichts mehr zu finden ist. Da heißt es nach Matthäus 5,3 zum Beispiel: „Freuen dürfen sich alle, die nur noch von Gott etwas erwarten. Mit Gott werden sie leben in seiner neuen Welt.“

Die These, die Brieler und Taddiken dazu formulieren, zielt auf das scheinbar überall sichtbare Comeback des Religiösen.

Und da schnappt man sich seine geliebte Lutherbibel, und da klingt das natürlich ganz anders: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihnen gehört das Himmelreich.“ Das „geistlich arm“ klang zu Luthers Zeiten noch nach „bescheiden“, „genügsam“ und eben dem Gegenteil dessen, was er bei den „Reichen“ immer wieder anprangerte: ihren Hochmut.

Ob die gewählte Übersetzung das besser trifft – wir zweifeln. Und ob Luther ein Wort wie „dürfen“ benutzt hätte, wir bezweifeln es ebenfalls. In Luthers „selig sind“ klingt eben auch das versprochene Himmelreich mit an. Bei ihm wird ja nichts gewährt, muss nichts verdient oder mit Ablass erkauft werden.

Und so heikel ist dann auch Matthäus 5,6: „Freuen dürfen sich alle, die danach hungern und dürsten, dass sich auf der Erde Gottes gerechter Wille durchsetzt – Gott wird ihren Hunger stillen.“

Im Luther-Original ist hier noch genau das Wort zu lesen, das auch als Oberthema der Disputation da steht: Gerechtigkeit. „Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“ Immerhin geht es ja hier – so formulieren es Brieler und Taddiken – um Gerechtigkeit in dieser Welt als Utopie.

Da ist es fast schade, dass die beiden nicht auch Matthäus 5,20 zur These gemacht haben: „Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht viel besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“

Das wäre ein Disputationsthema für heute, für den oft immer krasser aufklaffenden Widerspruch zwischen Recht und Gerechtigkeit, den viele Menschen erleben und der immer öfter die politischen Diskussionen verwüstet. Und Rechtfertigung? Davon bekommt man übergenug. Für jede Schandtat wird sich gerechtfertigt – und gibt es doch keine Gerechtigkeit. Oder täuscht man sich da?

Bedford-Strohm und Marx werden möglicherweise genau auf diese Widersprüche zu sprechen kommen, die unsere Gegenwart so dissonant machen, Politik eben nicht nur hilflos, sondern oft genug auch ungerecht. Und die Frage ist natürlich, so Britta Taddiken, wie sich die Kirchen in dieser durchaus politischen Frage nach Gerechtigkeit positionieren. Tun sie es überhaupt? Mischen sie sich ein?

Manche These ist dann sehr zugespitzt, wie die zu Matthäus 5,9 („Selig sind, die da Frieden stiften …“): „Die religiöse Lebensführung ist immer eine unzeitgemäße, in ‚Einer Welt‘ der zunehmenden Konkurrenz, des Gewinnstrebens, des Machtdenkens heute mehr denn je.“

Da haben die beiden Disputanten Futter zum nachdenken und Diskutieren. Und weil sie nur am Vormittag Zeit gefunden haben in ihrem vollen Katholikentagsprogramm, findet die Disputation in diesem Jahr am Samstag, 28. Mai, um 11 Uhr in der Thomaskirche statt. Rechtzeitiges Erscheinen sichert gute Plätze.

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