Haben Sie Angst? Haben Sie wirklich Angst? Sollten Sie auch haben. Aber nicht vor Terroristen. Jedenfalls nicht vor denen, die Ihnen Abend für Abend und Nachricht für Nachricht als solche präsentiert werden. Der Mensch ist ein Geschichtenerzähler. Und am stärksten schlagen ihn immer Geschichten von absoluten Bösewichtern in den Bann. Wer die westliche Welt in Angst und Schrecken versetzen will, der erfindet finstere Bösewichter.

Und der nutzt – wir leben ja im 21. Jahrhundert – die modernen Medien, die sich die Herren der westlichen Welt geschaffen haben, um sich mit Geschichten zuzudröhnen. Wir sitzen immer noch um das Lagerfeuer. Doch wir lauschen nicht mehr den begnadetsten Erzählern. Sondern denen, die uns den Stoff geben, der süchtig macht.

Die westliche Gesellschaft ist eine Suchtgesellschaft.

Und am süchtigsten ist sie nach Geschichten. Nicht nach irgendwelchen, sondern nach brutalen, blutigen, abscheulichen Geschichten. Nicht nur Hollywood liefert die Droge frei Haus. Jedes Boulevardmagazin, jeder Fernsehsender, jede Radiostation liefert – mit gespieltem Entsetzen in den Stimmen der Ansager – die Bilder von Katastrophen, Morden, Blutorgien frei Haus. Und zwar schon lange nicht mehr – wie noch bei Homer oder dem Autor des Nibelungenliedes – eingepackt in eine große, erklärende Handlung. Die strippenziehenden Mörder und Nornen lässt man heute weg.

Und man erzeugt eine leere Stelle, die den meisten Menschen, die diesen Blutorgien lauschen und zuschauen, nicht mehr auffällt: Sie bekommen keinen Sinn mehr geliefert. Keine Erklärung, WARUM Dinge geschehen, warum eitle junge Männer mit großen Maschinenpistolen posieren und dann losgehen, und Menschen umbringen. Die Inszenierung ist unübersehbar. Der Sinn der Geschichte nicht.

Auch wenn sie trotzdem wirkt. Denn Terror besteht immer aus zwei wesentlichen Zutaten: der Handlung und der BOTSCHAFT.

Die Botschaft lautet nie: „Unser Gott ist besser.“ Oder: „Eure Art zu leben gefällt uns nicht.“

Auch wenn es die Hohlköpfe, die sich da als unerschrockene Bandidos präsentieren, so gesagt haben in den Clips, die sie manchmal vor ihren Taten produziert haben. Oder ihre Anstifter, die die Tat nachher für sich reklamieren.

Es ist egal, ob man ein religiöses oder ideologisches Feigenblatt benutzt für Attentate und Mordorgien. Es sind nur Feigenblätter.

Die eigentliche Botschaft von Terrorattacken hat schon immer gelautet: „Wir wollen Euch Angst machen. Ihr sollt vor Entsetzen nicht mehr zum Denken kommen.“ Mit von Entsetzen gepackten Menschen kann man alles machen.

Und genauso reagieren viele Menschen, die das sehen: Sie verfallen in Schockstarre. Und lechzen geradezu danach, dass der Sheriff auf die Straße geht und dem Treiben der Mordbuben Einhalt gebietet.

Wer die blutigen Anschläge der Gegenwart wie einen Italo-Western inszenieren wollte, hätte Recht: Genau darum geht es. Diese so gern tabuisierte Faszination der modernen Gesellschaft vom Tod. Eine Faszination, die direkt verwandt ist mit der Sucht nach blutigen Bildern und Horrorgeschichten. Das Entsetzen hält die Entsetzten am Lagerfeuer fest. Draußen schleicht das blutrünstige Untier, das man drinnen an die Höhlenwand gemalt hat.

Ist es nur eine Sucht?

Es ist auch eine Flucht. Denn nichts hat die westliche Welt so sehr zum Tabu gemacht wie den Tod, Krankheit, Verletzlichkeit, Trauer. All das hat in einer von Schönheitswahn, Gesundheit, Fitness und Leistungsfähigkeit besessenen Gesellschaft keinen Platz mehr. In der bunten Welt des Konsums schon gar nicht. Mit dem inszenierten Tod kommt die alte, archaische Angst zurück in die „Schöne neue Welt“.

Nur: Die Leute, die heute über die Hoheit am Lagerfeuer verfügen, sind unfähig, den katastrophalen Geschichten einen Sinn zu geben. Die Fähigkeit des Geschichtenerzählens versagt.

Und da sind wir bei dem, was einige Leute heute immer noch Journalismus nennen, obwohl es längst nur noch „irgendwas mit Medien“ ist. Nicht mehr die Fähigkeit wird gewünscht und ausgebildet an den Media-Schools, sinn-volle Geschichten zu erzählen und damit zum Mittler zu werden zwischen einer (scheinbar) chaotischen Welt und den Zuschauern, sondern die Fähigkeit, die Leute am Lagerfeuer bei Laune zu halten.

Neuerdings sogar mit Supermarkt-Radio.

Sie haben Angst?

Vor dem Supermarkt-Radio sollten Sie Angst haben. Es ist ein Teil jener modernen Medienwelt, in der die Geschichtenerzähler nicht mehr erzählen wollen, wie man sich dem Unbekannten stellt, es versteht und verändert. Sie wollen nur noch Rezepte verkaufen, wie man sich einkastelt in seiner Angst. Denn gegen das unerklärliche Entsetzen helfen nur noch: Keulen, Palisaden, Dornbüsche. Von Angst besessenen Menschen kann man alles verkaufen. Auch die Abschaffung all ihrer Freiheiten. Auf die sie gliederschlotternd nur zu gern verzichten, wenn der Zampano mit der großen Klappe nur laut genug beteuert: Ich kläre das für euch. Ich erschlage das Untier. Ich erkläre dem Ungeheuer den Krieg.

Das hat ein gewisser George W. Bush getan. Vor 15 Jahren. Erinnern Sie sich noch?

Gedanken über Terror und Angst, Teil 2
Wer macht eigentlich den großen Reibach im „Krieg gegen den Terror“?

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Es gibt 3 Kommentare

Bei mir hat sich immer noch keinerlei Angst eingestellt. Nichtmal ein mulmiges Gefühl wenn mir ein Koffer entgegenkommt. Ich hatte auch noch nie den Gedanken, dass da, wo ich grad bin, was passieren könnte. Wenn ich schon bei irgendwas draufgehen sollte,muss ich mir die Zeit davor ja nicht auch noch unnötig vermiesen.

Ja, da müssten die “Besorgten” erstmal ein Hirn zum selber Denken haben!
Die Medien machen bei der Angstschürerei kräftig mit: Wenn z. B. wie in München dieses Attentat geschieht, da wird ständig irgendein Reporter im Fernsehen zugeschaltet, der dann irgendwelche Aussagen trifft, obwohl noch nichts genaues darüber gewusst wird. Spätestens am nächsten Tag fangen dann diese Talkshows statt “Ist der Terror jetzt in Deutschland angekommen”? Jeder Talkgast gibt dann irgendwelchen Senf dazu. Es ist schlimm, wenn Anschläge passieren, aber ich finde, dass bei jeder Ausschlachtung dieser schlimmen Ereignisse, die Opfer nochmals getötet oder verletzt werden. Am besten währe es, wenn man weder Fernsehen, Radio und Presse sieht. Von vielen Medien wird die Angst noch geschürt. Wenn wir nur noch Angst haben und uns von der Angst lähmen lassen, dann können wir uns doch gleich umbringen, das Leben ist mit ständiger Angst nicht mehr lebenswert. Keiner weiß auch, ob er nicht morgen oder übermorgen von einem Auto überfahren wird und gehen trotzdem auf die Straße. Das Schicksal kommt, wie es für einen bestimmt ist, man kann nur selbst auf sich und seine Mitmenschen acht geben.

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