Worüber haben wir in diesem Jahr nachgedacht? Über Sorgen natürlich. Über „Besorgte Bürger“ und die Frage, ob sie vielleicht Recht haben. Denn man kann zwar vergrämt sein über all die Leute, die da müffelnd und murrend durch die Straßen gezogen sind, sich in Internetforen austoben und dann auch noch Frustwählen. Was ja in Sachsen keine neue Übung ist. Das haben die Sachsen schon seit 2004 gemacht.

Nur damals hieß das Geschoss, das sie in den Landtag beförderten noch NPD. 2009 hieß es dann FDP. Und nun seit 2014 AfD. Irgendetwas rumort da. Nur was? Der Ärger über „die Ausländer“ kann es nicht sein. Die gab es gerade in den seligen sächsischen Landkreisen immer nur in homöopathischer Dosis. Und wirklich viele sind es auch 2015 und 2016 nicht geworden. Auch wenn für manchen Ureinwohner die Welt auf einmal unfassbar international wurde. Mit 26-jähriger Verspätung hat Mancher mitgekriegt, dass 1989 die Mauer gefallen ist – und zwar nicht nur in eine Richtung.

Reisefreiheit für Zonenbewohner bedeutet nun einmal in der Logik nächstem Schluss auch Reisefreiheit für alle anderen.

Das scheint wirklich schwer zu begreifen zu sein. Als hätten die Leute zwar offene Grenzen gewollt, die Ofenwärme der DDR aber behalten wollen. Und dann haben sie König Kurt gewählt. Da werde einer schlau draus.

Erklärt das die besondere Besorgnis in Sachsen?

Nicht wirklich.

Aber den ganzen brummenden Sorgen liegt augenscheinlich ein ganzes Bündel von Wirklichkeitsverweigerungen zugrunde. Deutlich mehr als die oben genannte, aber die ist so schön billig. Etwas für einfältige Gemüter, die komplizierte Probleme mit einfachen Mitteln klären wollen. Wenn der Computer streikt, holen sie den Hammer. So ungefähr.

Und das lässt man ihnen auch noch durchgehen. Denn nichts anderes ist es, wenn sächsische Regierungspolitiker für so etwas „Verständnis“ artikulieren. Was wohl eher verrät, dass sie selbst nichts verstanden haben – und die Hammermethode nicht so schlimm finden. Und dann trotzdem den Breitbandausbau vorantreiben wollen. Das passt auch nicht zusammen.

Es ist ein schönes – aber auch teures Placebo. Man versucht mit einer schnieken teuren Technik zu reparieren, was man vorher durch fahrlässige Ignoranz erst hat kaputtgehen lassen. Denn wer ehrlich ist, kann es sagen: Das sächsische Land ist kaputt.

Nicht nur das sächsische. Aber hier ist es jetzt so unübersehbar, dass ein paar Leute langsam die Panik kriegen. In westlicheren Gefilden kommt das noch.

Ziemlich lange war das schöne Sachsen ein besonderes Experimentierfeld. Als hätte jemand im Königsschloss in Dresden beschlossen, einfach mal alles auszuprobieren, was sich an hübschen Instrumenten zur Arbeitskräftedisziplinierung ausprobieren lässt. Das erzählen wir jetzt nicht noch einmal ausführlich. Das kennen alle. Genauso wie die Folgen, die man eigentlich nur noch als ein „Rette sich wer kann“ beschreiben kann: eine beschleunigte Flucht aus den geplünderten Landschaften in die verbliebenen Rettungsboote – die drei großen Städte.

Das Einkommensniveau ist trotzdem noch so unterirdisch, dass es für keine Rente reicht. Leistung wurde und wird nicht belohnt, sondern mit Punktabzug bestraft. Mittlerweile sorgen sich ja sogar große Zeitungen um die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich. Was auch nur wieder eine Alibi-Diskussion ist.

Denn es sind nicht nur die Einkommen, die den einen abhanden kamen. Ihnen kam auch der Bus im Dorf abhanden, die Schule und das Ärztehaus. Und die Zeitung, die sie lesen, erklärt ihnen dummdreist, dass die Griechen das ganze Geld bekommen haben. Was sie gern glauben. Betroffensein verwandelt sich ja nicht gleich in Begreifen. Man glaubt so gern – nicht nur in Sachsen.

Und man ignoriert lieber, dass das alles Ablenkungsmanöver sind für ein großes Versagen. Denn irgendwann hat sich etwas eingeschlichen in die Sprache der gewählten Politiker, das beängstigen darf. Manche nennen es den „Primat der Wirtschaft“.

Obwohl es ein Kotau vor den großen Konzernen ist. Und eine Kapitulation der Politiker, die so etwas sagen. Selbst gestandene Unternehmer fassen sich an den Kopf. Sie kämpfen zwar mit allen Bandagen dafür, dass der Politik ihnen das Wirtschaften erleichtert, Steuern und Abgaben senkt und Gesetze entschärft. Aber sie wissen selbst, wie ihr Gemeinwesen vor die Hunde geht, wenn Politik sich den Interessen wildfremder Konzerne andient, deren Vertreter und Anwälte sogar gleich noch ins Haus holt, damit die die neuen Gesetze schreiben.

Die Besorgten haben also durchaus ein richtiges Gefühl, wenn sie finden, „dass Wahlen nichts verändern“ und „der Wähler eh nichts ändern kann“. Zu viele Parteien singen mittlerweile das Lied vom „Primat der Wirtschaft“. Auch solche, die man dafür gar nicht gewählt hat. Warum soll man sie also wählen, wenn sie ja doch die Interessen anderer Leute vertreten?

Was übrigens nicht nur in Deutschland so ist. In ganz Europa scheinen die einstmals linken Parteien seit Blair und Schröder hinübergewechselt zu sein – zumindest in die Vorzimmer der großen Bosse, wo sie höflich darauf warten, dass sie auch mal rein gelassen werden.

Statt zu arbeiten. Statt Lösungen vorzuschlagen für die Probleme, über die ja nun jeder stolpert, der offenen Auges draußen herumläuft. Aber selbst das haben sie dann den Bossen lieber selbst überlassen. „Bankenrettung“ nannten sie das Projekt. Bei dem sie mit den Billionen, die der Kontinent eigentlich für Investitionen brauchte, den goldenen Hintern von Investoren und Aktieninhabern poliert haben.

Das ist jetzt mal etwas zugeschärft. Aber es gehört zum Brodeln des Unmuts, der seit 2008 in immer neuen Wellen durch die Länder Europas zieht. Und vor allem das Projekt Europa und den Euro lädiert. Und dann auch nach Deutschland hereinschwappte, als sich die ganze europäische Problemlösergarde als unfähig erwies, für die ankommenden Flüchtlinge aus dem brennenden Nahen Osten eine Lösung zu finden. Sie hatten fünf Jahre dafür Zeit. Und was kam raus? – Frontex.

Gebraucht aber hätte es eine richtige Lösung: Mit humanitären Aufnahmebedingungen, großen Unterstützungs- und Integrationsprogrammen und auch so einer Art gemeinsamer Außenpolitik im Nahen Osten. Das alles gibt es nicht.

Die Gewählten haben mit gemeinsamem Schweigen reagiert, flankiert von einem ziemlich hysterischen Streit im Wohnzimmer. Die besorgten Bürger sitzen ja auch schon lange in Regierungsämtern. Nur merkt man jetzt, dass sie vom Regieren keine Ahnung haben. Sie wurden irgendwie nicht wegen ihrer Kompetenz in diese Ämter gewählt, sondern wahrscheinlich wegen ihrer besonders schönen Lederhosigkeit.

In weniger besoffenen Zeiten wären sie von einem anspruchsvolleren Wahlvolk wieder zurückgeschickt worden in ihre Lieblingskneipe. Nun aber stehen sie am Rednerpult und schüren die Besorgnis.

Die natürlich steigt, wenn die Gewählten so öffentlich zugeben, dass sie von ihrem Amte überfordert sind und meinen, jemand anders solle das alles klären. Und vor allem solle man sie mit den ganzen Sorgen verschonen.

Schönwetterregierende.

Die besorgten Bürger sind also zu Recht besorgt. Auch wenn sie nicht merken, dass eigentlich die Sorge um das regierende Personal die größte Sorge sein sollte.

Vielleicht brauchen wir tatsächlich auch in der Bundesrepublik eine Hochschule für Menschen, die einmal politische Verantwortung übernehmen wollen. Mit Studienfächern wie Rationale Analyse, Lösungskompetenz, Kommunikationsfähigkeit, Transparente Regierungsarbeit, Moderne Kommunikation, Volkswirtschaftliche Dynamik, um nur ein paar zu nennen. In den üblichen Politikwissenschaften wird so etwas nicht gelehrt. Die besten Leute lernen das in der Praxis und werden dann durchaus beeindruckende Politikgestalter. Weil sie – oft mit vielen Niederlagen und Blessuren – gelernt haben, wie es geht. Nicht nur das intrigante Strippenziehen (wie in den Dramen Shakespeares), sondern auch das Kooperieren mit Querköpfen, Streithammeln, Experten und Enthusiasten.

Wie weit wir gekommen sind, lässt sich ja im Lande gut bewundern – unsere Bundeskanzlerin zum Beispiel, die schon deshalb positiv auffällt, weil sie solche Dinge wie Kompriss-Arbeit und Team-Arbeit beherrscht. Was in einer Welt von Narzissten und rücksichtslosen Streithammeln natürlich hervorsticht.

Aber das mit der Problemlösung ist nicht so ihr Ding. Das vermisst man. Sie lässt ihren Finanzminister an der europäischen Finanzlage herumbasteln – und alle sehen, dass das nur ein höchst beängstigendes Flickwerk ist. Aber der Vorschlag, den Laden wirklich zu sanieren, der fehlt. Was nicht nur bei uns so ist. Leider. Sonst könnte man ja noch hoffen, dass in Frankreich oder den Niederlanden jemand sagt: Na gut, dann mach ich das.

Aber darauf warten wir auch schon lange.

Und nicht nur wir.

Dieses dumpfe Gefühl, dass die Gewählten (aus allen möglichen Gründen) nicht mehr die Kraft oder den Mumm haben, den Laden zu sanieren, geht überall um. Und die Wähler suchen überall nach Klempnern, die sie losschicken können, die kaputte Leitung mal zu reparieren. Meistens sind das dann sehr seltsame Klempner, eher Typen, die glauben, mit ein paar Hammerschlägen alles wieder zurechtbiegen zu können.

Besorgnis macht auch blind. Man hofft ja so sehr, dass Papa alles richtet. Erst recht, wenn Papa kraft seiner blonden Mähne schon immer gesagt hat: „Ich kann das besser.“ Er hat ja die Lederhose an.

Sagen wir es einmal so: Es gibt höchsten Grund zur Besorgnis. Aber die Sorgen beseitigt man nicht, indem man die Mauern wieder hochzieht und sich einhaust, damit die schlimme Welt nicht mehr reinkommt. Die löst man eher mit dem Gegenteil, vor dem augenscheinlich eine Menge Leute Angst haben: den Stier bei den Hörnern packen, Lösungsstrategien entwickeln, Ressourcen bündeln und die Karre in Teamwork aus dem Dreck ziehen.

Ja, da schaut man sich um und bekommt erst recht Gänsehaut: Das scheinen alle verlernt zu haben.

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