Sagen wir es gleich vorweg: Wahrscheinlich braucht es geniale Schriftsteller vom Format eines Fjodor Dostojewski, die den Mut haben, sich geistig selbst in die Abgründe eines Gehirns zu begeben, das fähig ist, das Töten um des Tötens willen für denkbar zu halten. Von den üblichen Terrorbekämpfern wird man diese Analysen nicht bekommen. Aus verschiedenen Gründen.

Einer ist: Die Grenzen zwischen einer Pathologie des Denkens und dem, was wir in unserer aktuellen Gesellschaft für akzeptabel halten, sind fließend. Vieles, was in früheren Gesellschaften als akzeptiert galt, ist heute tabu. Viele pathologische Verhaltensweisen sind aber auch akzeptiert, ihre Träger oft sogar gesellschaftlich anerkannt, selbst dann, wenn ihr Verhalten auf andere Weise fatale Auswirkungen auf unsere Gesellschaft hat.

Soziologen und Historiker beschäftigen sich mit der Frage schon seit Längerem – meist mit einer pessimistischen Schlusssumme: Der Mensch ist ein grenzenloses Wesen. Zumindest ist ihm kein natürliches Stopp-Schild eingebaut. Er will alles wissen, alles ausprobieren, alles beherrschen. Damit ist er aus dem Naturzustand des Tieres herausgetreten und zum Menschen geworden. Mit allen fatalen Folgen.

Aber während es in natürlichen Zusammenhängen hochwirksame Regulative gibt, die die Dominanz einer besonders raubgierigen Art bremsen, gilt das für den Menschen nicht mehr. Er hat sich die Erde – ganz im Sinne der Bibel – „untertan“ gemacht. Was übrigens eine falsche Übersetzung des hebräischen Verbs kabasch ist. Ja, da hat auch Martin Luther danebengehauen. Vielleicht auch, weil er noch in einer Zeit lebte, in der Untertan sein auch bedeutete, dass der Herr, dem man untertan war, die Regeln einhielt und für sein Land und seine Untertanen sorgte.

Aber tatsächlich geht es bei kabasch um den Urakt der Landkultur: die Urbarmachung. Dass das schon in biblischen Zeiten katastrophale Folgen hatte, weil selbst diese Urbachmachung den Begriffshorizont der frühen Agrarwirtschaften überstieg, ist heute im einstmals fruchtbaren Halbmond zu besichtigen: Es waren die biblischen Kulturen, die hier die einst reichen Wälder fällten, auch im gepriesenen Land „wo Milch und Honig“ fließen. Die noch zu Homers Zeiten berühmten Zedernwälder des Libanon – sie sind genauso verschwunden wie die Wälder, in denen Gilgamesch jagte oder die Götter und Göttinnen Griechenlands. Nur aufgeschrieben hat das keiner. Die Verwüstung der Landschaft ging für die Zeitgenossen so langsam vonstatten, dass sie nicht einmal begriffen, dass sie selbst das Ökosystem fatal verändert hatten.

Aber Grenzenlosigkeit ist in alles eingebaut, was der Mensch tut. Auch in seine Religionen, in seine politischen Systeme, in seine Moral. Nicht nur die Bibel, auch der Koran schwankt zwischen den Extremen einer bewusst gelebten Friedfertigkeit und einem gnadenlosen Ausschließlichkeitsanspruch.

Der nicht erst in unserer Gegenwart auch als ideologisches Element von Terrorismus wirksam wird. Fundamentalistische religiöse Splittergruppen gab es ebenfalls auch schon in biblischen Zeiten. In Judäa stehen die Sikarier dafür, im Islam wurde die Sekte der Assassinen bekannt dafür, die insbesondere in der Zeit der Kreuzzüge eine Rolle spielten.

Was so scheinbar seit den 1990er Jahre als aufkommender Terrorismus erscheint, ist nichts Neues.

Selbst im 19. Jahrhundert waren europäische Zeitungen voller Geschichten über einen allerorten drohenden Terrorismus. Es war die Zeit, als Fjodor Dostojewski seinen Roman „Schuld und Sühne“ schrieb, in neueren Übersetzungen „Verbrechen und Strafe“, mit dem zum Synonym des gewissenlosen Mörders gewordenen Helden Raskolnikow. 1866 erschienen. Und nicht nur Zeitgenossen interpretierten das Buch als genialen Versuch, das Phänomen des aufkommenden Anarchismus zu begreifen, aber auch die Hemmungslosigkeit des „außergewöhnlichen Menschen“, jener Figur, die dann auch Nietzsche als „Übermensch“ poetisch fasste – mit allen fatalen Folgen. Man lese nur seinen „Also sprach Zarathustra“.

Denn damit ein Mensch zum Täter und Attentäter wird, braucht es ein paar Voraussetzungen. Er ist nicht das Gegenteil des verantwortungsbewussten, sozial integrierten Menschen. Er ist dessen Negation.

Die erste Voraussetzung wurde benannt: Er ist sozial nicht integriert.

Die zweite ebenfalls: Er definiert sich als anderer, besserer Mensch. Da ist es egal, ob ihm ein Prediger eingeredet hat, dass er durch seine Religionszugehörigkeit etwas Besseres ist, oder ob ihm eine politische Gruppe einredet, er sei es durch seine Hautfarbe oder seine Geburt in einer „auserwählten Rasse“. Wobei gar nicht so entscheidend ist, dass sich dieser Mensch als etwas Besonderes sieht.

Entscheidender ist psychologisch, als was er sich nicht mehr sieht. Denn das künstliche Selbstbild füllt ja einen Leerraum. Das ist das, was Dostojewski versucht zu erfassen: Was diesen kalt und zynisch mit sich selbst argumentierenden Raskolnikow eigentlich dazu treibt, seinen Trieben nachzugehen und sich das Recht zu nehmen, über das Leben anderer zu entscheiden. Er setzt sich einer als beschämend unvollkommen gesehenen Welt als der Vollkommene gegenüber. Genauso wie es alle fundamentalistischen Bewegungen auch heute noch tun. Die „Umwertung aller Werte“ passiert im Kopf.

Bei Raskolnikow fallen alle diese Begründungen und Selbstrechtfertigungen für sein Tun am Ende in sich zusammen. Er begreift, was er mit seinem Tun anderen – aber auch sich selbst angetan hat. Der Leser bekommt ein – ziemlich beklemmendes – Gefühl davon, was in solchen im Grunde kommunikationsgestörten Persönlichkeiten vor sich geht. Sie haben sich eine ganze Burg aus Argumenten gezimmert, die praktisch alles, was sie tun, begründen, selbst die schlimmsten Grausamkeiten. Aber bei Raskolnikow erwacht am Ende das Gewissen, dieses komische Ding, das wir alle haben. Denn auch wenn der Mensch in seinem Streben und Trachten grenzenlos ist und nichts ihn aufhält – im Laufe dieser letzten ziemlich gewalttätigen 10.000 Jahre ist trotzdem so ein Ding wie Gewissen entstanden.

Von Forschern bis heute kaum untersucht. Denn augenscheinlich ist es schwer auszumachen, wo man es wissenschaftlich verorten und wie man es im Experiment nachweisen kann. Deswegen glauben einige Leute, es einfach mal als Eigenschaft von Religion zu betrachten – Religion quasi als unsichtbares ethisches Konstrukt, das die Bestie Mensch irgendwie mit einem kulturellen Moralkodex versieht. Dass das so nicht unbedingt funktioniert, hat ja die zwölfjährige Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland gezeigt: Es gibt augenscheinlich simple Mechanismen, mit denen man viele Menschen dazu bringen kann, ihr Gewissen zu vergessen und etwas Anderes über die gewöhnliche zwischenmenschliche Moral zu stellen. Ein Mechanismus, den augenscheinlich fundamentalistische Terrorgruppen heutzutage perfekt beherrschen.

Sie geben den von ihnen Rekrutierten etwas, was diese in ihrer Eigenwahrnehmung über andere erhebt. Und sie schalten das aus, was uns zu gewissenhaften Menschen macht, Menschen, die gelernt haben, dass alles, was wir tun, Folgen hat – gute und schlechte. Folgen, die wir meist nicht überschauen können, weil uns die Zukunft schlicht unzugänglich ist. Aber wir haben gelernt, über die Möglichkeit dessen nachzudenken, was passieren kann, wenn wir handeln. Das ist schwer genug und führt in der Regel dazu, dass Menschen, die so gewissenhaft sind, vorsichtiger agieren, nicht so laut auftrumpfen. Gewissenhaftigkeit macht uns als Menschen erst lernfähig. Wir schauen auf das, was wir tun, nicht mehr mit dem fanatischen Blick des bekloppten Wissenschaftlers, der unbedingt wissen will, was passiert, wenn er auf den roten Knopf drückt.

Sondern wir entfachen im Kopf ein ganzes Feuerwerk von Für und Wider. Erst das lässt uns zögern – und manchmal auch sagen: Nein, das tun wir nicht. Weil wir nicht abschätzen können, was dann passiert.

Das bringt gewissenhafte Menschen immer in die Defensive. Denn da draußen laufen genug Leute herum, die lauthals fordern: „Drück den Knopf, den Arschlöchern müssen wir’s zeigen!“

Sie merken was?

Die alten Emotionen führen zu alten Konfrontationsmustern. Das schaukelt sich hoch. Und es zerstört das, was wir in Jahrhunderten mühsam aufgebaut haben. Immer wieder mit diesem Gewitter im Kopf: „Was tun? Und was lieber nicht?“

Der unspektakulär spektakuläre Nebeneffekt ist übrigens, dass Menschen mit diesem manchmal so nervenden Gewissen nicht nur die zwei Alternativen der Dummköpfe haben  (Schädel einschlagen oder weglaufen), sondern unendlich viele. Die man alle in den heute so gern verlästerten Begriff Frieden stecken kann. Lauter Handlungsmöglichkeiten vom mühsamen Gespräch über das Kooperieren bis hin zum Aushandeln, Austauschen, Geschenkemachen, Gastfreundschaft und Toleranz bis hin zum Vertrag, in dem man klärt, welche Probleme man gemeinsam lösen will.

Das ist nur eine kleine Auswahl. Aber man sollte es zumindest erwähnen in einer Zeit, in der die Leute wieder das Sagen haben wollen, die das Schädeleinschlagen für eine kluge Lösung halten. Der moderne Terror ist das Ergebnis ihres Handelns. Aber eins ist sicher: Mit noch mehr Schädeleinschlagen kommt man aus dem Dilemma nicht wieder heraus.

Und „Schuld und Sühne“ sollte man dem Einen oder Anderen vielleicht doch wieder zur Pflichtlektüre machen. Dieser Dostojewski ist viel moderner, als man glaubt.

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