Mein Nachbar Rüdiger ist Lehrer, eine im Grunde sympathische, psychisch jedoch eine leicht labile Kreatur. Bei uns im Hause erfreut er sich großer Beliebtheit, weil er mittags meistens schon daheim ist und so von allen Nachbarn die Zalando-Lieferungen anzunehmen vermag. Wenn man dann allerdings bei ihm klingelt, kriegt man die Schuhe oft nur in Allianz mit Rüdigers Neuanfangs-Visionen. So der Deal.

Vor einem Jahr zum Beispiel hatte ihn abermals ein besonders eigenartiger Hafer gestochen: Er wolle in den Ferien nach La Gomera zum Fasten-Yoga aufbrechen, hatte er verkündet und hinzugefügt, er wolle nun endlich seine Mitte finden. Seine Mitte finden, um diese gleichzeitig etwas zu minimieren. Mein Einwand, dass die Suche nach einer kleineren Mitte sich eventuell noch schwieriger gestalten könnte, verhallte ungehört im Treppenhaus.

Als ich ihn zwei Wochen später vom Flughafen abholte, wirkte er zwar um die Hüfte tatsächlich etwas magerer, fixierte die Welt jedoch mit einem seltsam abwesenden Gesichtsausdruck. Er sei eben erleuchtet und Essen sei in unserer Gesellschaft komplett überbewertet, war das Einzige, was er mich in der nächsten halben Stunde wissen ließ.

Mit etwas Willkommens-Tiramisu im Magen in seiner Wohnung gelandet, zeigte sich Rüdiger bald ansprechbarer und sah sich willens, bereits ein paar unkomplexe Entscheidungsfragen zu beantworten.

Zwei Liter Tiramisu später hatte ich endlich den kompletten Reisebericht aus ihm herausgelockt.

Da ich schon einige Abende mit Rüdigers Lullaby-Monologen über mich ergehen lassen musste, an denen ich meinen Füßen das Eingeschlafensein geneidet hatte, war ich in gewisser Weise froh, über den narrativ nicht ganz unergiebigen esoterischen Mummenschanz, der da zutage gefördert wurde.

Rüdiger sah zwar jetzt alles in kategorisch mildem Lichte, zeigte sich aber hie und da durchaus bereit, auch Krisensituationen einzuräumen: Bereits am ersten Tage habe man ihm drei Gläser lauwarmes Salzwasser zum Frühstück verabreicht, um ihm jede einzelne Körperöffnung zu entkernen und auszuwringen. Das, was andernorts als zutiefst behandlungsbedürftig gelten mag, hieß hier „Kunjal Kriya“ und schien außerordentlich erwünscht zu sein: die rituelle Magenleerung durch Erbrechen.

Die anderen Kursteilnehmer, mit denen er die Salzlake aus einem Topf zu teilen hatte, seien fast ausschließlich Pärchen gewesen – bis auf Rüdiger und seinen unmittelbaren Nachbarn Jesko, einem stark schwitzenden Systemadministratoren aus Castrop-Rauxel.

Auch mit den Yoga-Übungen als solchen habe er sich zunächst schwergetan: „Atmet dahin, wo es unangenehm ist!“, hatte die etwas ausgezehrt wirkende Kursleiterin während der ersten Stunde im ruhigen Singsang befohlen. Dieser Aufforderung ehrlich nachzukommen, hätte für Rüdiger bedeutet, Jesko direkt ins Gesicht zu pusten, was ihm nach westlichen Maßstäben dann doch unhöflich erschienen sei. Auch Jesko schien Schwierigkeiten mit der Atemübung gehabt zu haben, atmete er doch bereits seit Beginn des Kurses deutlich wahrnehmbar eine Etage zu tief aus.

„Lasst die Probleme an euch vorbeiziehen!“, tönte es passender Weise seitens der Yogalehrerin und genau das tat Rüdiger dann auch: Er ließ die Probleme an sich vorbeiziehen.

Hart mit sich ins Gericht ging Rüdiger nun auch mit seinem bisherigen Hygieneverständnis.

Auf La Gomera habe er sich regelmäßig die Zunge mit einem Stäbchen abschaben müssen, wozu er sich zugegebenermaßen auch überwinden musste – zu offensichtlich waren hier die Parallelen zur Speichelproben-Entnahme beim gemeinen Triebtäter.

Als ganz hervorragend aber pries er die Salzwasserreinigung mit der Plastikspritze für Nase und Ohren, diese wolle er unbedingt beibehalten. Vorsichtig äußerte ich mich an dieser Stelle, dass er meist ohnehin kaum pünktlich zur ersten Stunde erschien. Rüdiger entgegnete ungewohnt selbstbewusst, Wartende hätten wenigstens Zeit, sich ihrer eigenen Unwichtigkeit bewusst zu werden.

Kein Frage, ich war beeindruckt! Ob es nun ausgiebige Nasenspülungen, Partner-Darmmassagen oder die allabendlichen Einläufe mit Gruppenfeeling gewesen waren, die Rüdiger zu seiner neuen Lässigkeit verholfen hatten, war nicht klar auszumachen. Feststand: Rüdiger war auf La Gomera ein neuer Mensch geworden.

Als er mit seinen Ausführungen am Ende angelangt war, strahlte er derartig übers ganze Gesicht, dass ich mir jeglichen Einwand verbot und nachdenklich das Haus verließ. Nach manchen Gesprächen im Leben, hat man schlichtweg ein gesteigertes Bedürfnis nach frischer Luft. Draußen stand die Sonne in ihrem Zenit und ein halbes Dutzend Maurerlehrlinge kam mir gerade mit sechs Bierdosen entgegen. Jeweils.

Ich ließ die Probleme an mir vorbeiziehen.

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