Gestern stand in der Leipziger Volkszeitung zu lesen, dass wir – damit meinte man uns, die Deutschen – in den letzten 20 Jahren eine enorme Entwicklung durchgemacht hätten, was unsere Ansprüche an die Ferien angeht. Es müsse nunmehr alles perfekt sein, lange beschwerliche Anreisen seien tabu, der Urlaub müsse mit dem Schritt aus der Haustür beginnen und überhaupt „eine kleine Kur vom Alltag“ sein.

Ich bin kein Freund von Aussagen, die im Kern „Früher war alles besser“ bedeuten. Denn das hieße, allzu Offensichtliches zu wiederholen. Nicht jede Entwicklung ist per se gut, weil sie als Entwicklung bezeichnet wird und nicht alles, was geschieht, ist automatisch besser, nur weil es nicht vor hundert Jahren passiert ist.

Fakt ist: Wir fuhren auch vor 30 Jahren schon in die Ferien. Die Welt stand uns vielleicht nicht ganz so offen wie die Nikolaikirche allen Sterblichen, aber wir verreisten eben. Gerne auch im Sommer, weil es sich eben anbot. Jedes Jahr zum gleichen Ziel: Ungarn. Balaton. Der Duft der großen weiten Welt: Zweitakter, die sich durch Südosteuropa jaulten, vermischt mit ungarischer Paprika.

Gegen ein Uhr in der kalten Sommerfrüh starteten wir gewöhnlich. Der Wartburg vollgepackt bis unter den Dachgepäckträger mit Gastgeschenken und Bestechungsware für die Gastgeber am Plattensee: Kinder- und Damenschuhe, Amiga-Schallplatten und was man sonst noch so brauchen konnte unter Freunden. Tütensuppen, Instantpudding für unser eigenes Überleben in den drei Wochen kleiner Freiheit.

On the backseat, damals sagten wir noch Rückbank, of the Wartburg hockte meist noch meine ältere Schwester, die sich aufrichtig in schwesterlicher Liebe darüber freute, wenn ich – noch bevor mein Vater in den dritten Gang geschaltet hatte – schon das erste Mal die Polster großflächig vollgekotzt hatte. „Schnell, eine Tüte!“ …hieß der verzweifelte Ruf von der Rückbank und jedes Mal, obwohl ich seit Jahren zum Pflegefall zu werden drohte, sobald ich auch nur des Geruchs eines herannahenden Automobils gewahr wurde, fing meine Mutter so verzweifelt-hektisch zu suchen an, als handele es sich bei der Kotztüte um das Bernsteinzimmer.

Trotz alledem: Allzu viel lamentiert wurde nicht. Und Ansprüche wurden von uns damals irgendwie überhaupt nicht formuliert. Keinen Menschen, noch nicht mal einen erwachsenen, habe ich damals den Satz sagen hören: „Also, ich erwarte von unserem Urlaub dies oder das …“
Das Auto heizte dem Sommerurlaub entgegen, von draußen strömte der Geruch von kühlen Sommerwiesen und sterbendem tschechischen Wald. Mein Vater verfuhr sich regelmäßig in Prag, meine Mutter war Herrin über die Kühltasche. In Brünn gab es die erste Pepsi. Glück, ohne es zu ahnen. Die Dosen bewahrte man auf. Für Stifte. Machte sich gut auf dem Schreibtisch zuhause.
Meine Eltern stellten Quizfragen nach hinten: Wie viel Wasser führt die Moldau? Wie viel die Donau? Wie heißt „Elbe“ auf Tschechisch? Wie heißt Fleischer auf Ungarisch? …

Das war unsere Kur vom Alltag. Das war perfekt. Nur: Gefordert hätten wir diese Perfektion nie. Es geschah einfach.

Glück ist eben nicht reklamierbar.

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