Am 16. Juni hat der Ullstein Verlag einen Klassiker neu aufgelegt: „Die Wahl und Amtseinführung Donald Trumps in den USA hat einen Klassiker der englischsprachigen Literatur wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt: George Orwells dystopischer Roman ‚1984‘ behauptet sich derzeit weiterhin unter den ersten 20 Plätzen der amerikanischen amazon-Bestsellerliste.“ Ob wir das Buch nicht rezensieren würden, wurden wir gefragt.

Würden wir wohl gern. Das Taschenbuch steht nun seit 27 Jahren im Regal, auch wenn uns damals, im ersten Die-Grenzen-sind-offen-Kaufrausch gar nicht auffiel, dass das Bändchen stolze 540 Seiten hat. Aber es war ein ordentlicher Kleindruck. Und es kam hinzu: Ein Land mit Big-Brother-Kulisse hatten wir gerade erlebt. Ich jedenfalls las das Buch nicht wie eine Replik auf einen amerikanischen Präsidenten, der seine Bürger mit „alternativen Fakten“ versucht zu verarschen.

Dazu war das gerade Vergangene zu frisch. Das Buch viel zu lang erwartet. Auch „bei uns“ war es im Jahr 1984 in aller Munde. Jedenfalls da, wo man sich darüber unterhielt, was eigentlich falschlief in diesem schönen kleinen Biedermeierland mit seinen seltsamen Zeitungen und Nachrichtensendungen und … seiner Machtlosigkeit.

Und man wusste die ganze Zeit, dass der Große Bruder in Moskau und der Kleine Bruder in Ostberlin alles taten, um die Geschichte in ihrem Sinne zu redigieren, wie es Big Brother auch tat. Denn es wurde drüber geschrieben. Man staunt ja im Nachhinein, dass darüber überhaupt geschrieben werden konnte. Im Osten. Ordentlich verpackt in die Essays und Nachworte, die der Slawist und Lektor im Verlag „Volk und Welt“ Ralf Schröder zu den in diesem Verlag veröffentlichten Büchern kritischer sowjetischer Autoren schrieb.

Mit Ilja Ehrenburg ging es los, mit Michail Bulgakow, Tschingis Aitmatow, Juri Trifonow und Wladimir Tendrjakow ging es weiter. Wer sich mit diesen Autoren beschäftigte, der musste sich mit der Funktionsweise des Stalinismus beschäftigen, mit dem Umgang der Diktatur mit Menschen, Meinungsfreiheit, Kritik. Auch mit der unübersehbaren Retusche an der eigenen Geschichte. Als George Orwells Roman „1984“ 1949 erschien, war den Lesern durchaus bewusst, dass damit zuallererst die Erfahrungen mit dem Stalinismus gemeint waren. Denn bei seiner Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg hatte Orwell selbst miterlebt, wie Stalins Schergen die Gelegenheit nutzten, hinter der Front mit allen Abweichlern von der Moskauer Linie aufzuräumen. „Säuberungen“ nannte man das.

Und besonders entsetzte Orwell, dass diese Art Politik zu machen bis in die kommunistischen, im Grunde stalinistischen Parteien Westeuropas reichte. Am lebenden Beispiel konnte er studieren, wie Menschen sich in „Parteisoldaten“ verwandeln, keinen eigenen Gedanken mehr wagen und ohne Nachdenken auch die schlimmsten Befehle befolgen.

Und da liest man nun das von Ullstein so wärmstens ans Herz gelegte neue Vorwort, das Daniel Kehlmann zur Neuausgabe von „1984“ geschrieben hat – und ist enttäuscht. Natürlich versucht er den Bogen zu schlagen zu Donald Trump, der schon vor seinem Wahlsieg gezeigt hatte, dass er vor Lügen und Verdrehungen nicht zurückschreckt.

Und dann wundert man sich: Warum brauchten die Amerikaner erst einen Präsidenten dieses Kalibers, um wieder Orwells Dystopie zu lesen? Lesen sie tatsächlich auch nur das heraus, was Daniel Kehlmann herausliest? Dem man zugute halten muss, dass er nie in einem Big-Brother-Land gelebt hat. Zumindest in keinem, in dem Big Brother so offensichtlich war.

Denn das, was Orwell so erschreckt hat, steckt nicht in der Vollendung eines perfekten Kontroll- und Überwachungsstaates.

Wären wir hier ein aufgeblasenes Verkaufsportal, könnten wir schreiben: „Kunden, denen dieses Buch gefällt, empfehlen wir auch folgenden Titel:“

George Orwell „Farm der Tiere“.

1944 veröffentlicht und die bis heute bitterste und boshafteste Satire auf die Hybris der Dogmatiker. Oft wird es ganz auf den „Stalinismus“ gemünzt.

Aber wir sind ja mittlerweile ein paar Jahrzehnte weiter und wissen, dass die „Gleichesten unter den Gleichen“ sich immer wieder so verhalten, egal, welcher Partei sie angehören. Sie definieren „Tiere, die weniger gleich sind“, sorgen für Sonderrechte für sich selbst und erzeugen nach und nach ein Klima der Angst, das all jene, die nicht den Mut haben, Einspruch zu erheben, zu Teilen des Repressionsapparates macht.

Es fängt ganz harmlos und unverfänglich an. Ein bisschen revolutionäres Pathos, schmetternde Reden, eine süßliche Paradiessoße. Und irgendwann kommt das Stutzen, wenn auf einmal andere Tiere ausgegrenzt werden, heimliche Vergehen gemutmaßt werden, manche Tiere ein paar mehr Rechte haben, andere gar keine … und das Schnüffeln und Misstrauen beginnt, „Feinde“ werden geschaffen und müssen herhalten, um die zunehmende Repression zu legitimieren …

Und das Frappierende daran: Das trifft nicht nur auf den Stalinismus zu.

Und deswegen staunt man, wie naiv die Amerikaner eigentlich sind. Denn zu Orwell hätten sie schon greifen müssen, als Edward Snowden die Überwachungspraxis der NSA öffentlich machte. Oder als die „Tea Party Bewegung“ begann, das politische Klima im Land zu vergiften. Oder als bekannt wurde, mit welcher Gründlichkeit IT-Konzerne wie Facebook die Daten der Nutzer sammeln, bündeln und auswerten.

Ganz friedlich fängt es an …

Und es verändert die Menschen. Das Misstrauen beginnt sich bis in die Familien zu schleichen. Und nicht nur die USA kennen diese von Misstrauen geprägten Parteien, die sich in die offene Gesellschaft fressen und erst leise, dann immer lauter beginnen, Menschen zu verleumden, Panik zu machen, Feinde zu malen und den Konsens der offenen Gesellschaft zu zerstören. Beharrlich, zielstrebig.

Und das betrifft nicht nur die von ganz rechts außen. Dieses erst verbale, dann in Gesetz gegossene Werten und Abwerten von Menschen frisst sich hinein auch in die Mitte der Gesellschaft. Es wird kälter. Und mit der Abwertung und Ausgrenzung geht die Schaffung immer neuer Sicherheits- und Überwachungssysteme einher. Es waren auch Orwells Erfahrungen mit der – jawohl – englischen Zensur, die ihn immer weiter in die Richtung des dystopischen „1984“ trieben.

Denn misstrauische Systeme erzeugen weiteres Misstrauen. Sie stecken regelrecht an.

Und vor allem verändern sie Staaten. Was übrigens auch in diesen beiden Büchern steckt: Wie leicht moderne Staaten okkupiert werden können. Wie leicht sie den Anliegen kleiner, fanatischer Gruppen dienstbar gemacht und als Repressionsapparat gegen die Bürger gerichtet werden können. Und wie bereitwillig sie sich dazu hergeben. Stillschweigend. Denn: „Wess’ Brot ich ess’ …“

So auch in Deutschland erlebt 1933. Mit lang anhaltenden Folgen auch für den seelischen Zustand des Landes weit über 1945 hinaus.

Die meisten Menschen empfinden sehr wohl, wenn sie zu inhumanem Handeln gezwungen werden. Sie reagieren darauf mit Verdrängung, vermeiden die Heilung. Schlüpfen in neue Rollen. Aber die unterdrückten Ressentiments sind immer wieder aufrufbar.

„1984“ macht auf vielerlei Weise besorgt. Vielleicht braucht es tatsächlich erst einen Trump, damit wir wieder merken, dass der Stalinismus genauso wenig wie der Faschismus „unerwartbare Ereignisse“ waren, sondern immer möglich sind, wenn wir die Erosion wichtiger Standards in unserer Gesellschaft zulassen.

Und wir haben schon viele Standards aufgegeben, uns von den „besorgten Ministern“ mit Panik-Szenarien antreiben und täuschen lassen. Wenn die Panik erst einmal regiert, sind Tür und Tor geöffnet, die Selbstregularien eines demokratischen Staatswesens zu unterlaufen, hier ein kleines Bürgerrecht einzukassieren, dort ein bisschen Selbstbestimmung, da ein bisschen Meinungsfreiheit … und gleich noch eine triefende Soße von Verleumdungen, Unterstellungen, Vorurteilen in die Welt zu kippen.

Auf dass wir gar nicht mehr zum ruhigen Nachdenken und besonnenen Lösen unserer Probleme kommen.

Denn es gibt Viele rund um uns, die sich das gefallen lassen, die mit den Schultern zucken und sagen: „Ich kann ja eh nichts ändern.“ Die Schafe in Orwells „Farm der Tiere“. Und die auch niemals glauben würden, dass sie „irgendetwas zu verbergen hätten“. Sie glauben das wirklich. Als würden sich ausufernde Überwachungsapparate immer nur gegen richtige, echte Bösewichte richten, die so blöd sind, in Telefongesprächen und Internet-Chats ihre verruchten Taten zu planen. Dass „nur ganz zufällig“ auch lauter demokratische Politiker, Rechtsanwälte und Journalisten in diese Datenabschöpfungen geraten.

Und wie ist das mit der so netten Datensammelei von Facebook and Friends? Wollen die uns wirklich nur das Leben schöner machen und uns mit all den Dingen beglücken, „die wir uns schon immer gewünscht haben“?

Dumm nur, dass dabei so viele Fakenews produziert werden und die Presselandschaft links und rechts des Weges platt gemacht wird, weil Mark Zuckerberg das alles gern alleine machen möchte. Ganz allein. Erstaunlich, welche Formen Allmachtsansprüche annehmen können. Und in wie vielen Menschen sie schlummern, die uns von den Titelseiten anlächeln, als wenn sie kein Wässerchen trüben könnten.

Die ganze Reihe auf der L-IZ.de Nachdenken über …

Die neue LZ Ausgabe Juni 2017, ist seit Freitag, 16. Juni 2017 im Handel

Die Leipziger Zeitung Nr. 44: Über die Grenzen hinaus

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Es gibt 2 Kommentare

“Auf dass wir gar nicht mehr zum ruhigen Nachdenken und besonnenen Lösen unserer Probleme kommen.”
Und ja – so siehts wohl leider aus. Vielleicht bringen ja Artikel wie dieser ein paar Menschen mehr zum Nachdenken (klappt bei mir doch auch). Ich würds mir echt wünschen bei dem kopflosen Gewusel da draussen.

Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich das Buch immer noch nicht gelesen hab. Vielleicht sollte ich das doch mal nachholen, am besten gleich heut Abend.

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