Alle reden nur noch über linke Gewalt, aber nicht über die Politik der G20, die friedlichen Proteste und die Übergriffe der Polizei – dieser Eindruck ist zumindest bei vielen Aktivisten entstanden, die aus Leipzig nach Hamburg gereist waren. Am Montagabend folgten etwa 100 von ihnen einer Einladung der Gruppe „Prisma“ ins Pöge-Haus, um über ihre eigenen Erfahrungen zu reden. Dabei wurde deutlich, dass die inhaltliche Auseinandersetzung erst am Anfang steht. Zudem sehen viele nun eine große Gefahr für linke Projekte.

Mehr als eine Woche ist mittlerweile seit dem G20-Gipfel in Hamburg sowie den Gegendemonstrationen und Krawallen vergangen. In den Tagen danach hatten die Diskussionen und Forderungen parteiübergreifend teils hysterische Züge angenommen.

Die Nachwuchsorganisationen der CDU plädierten beispielsweise dafür, die Rote Flora nicht nur zu schließen, sondern auch abzureißen, und forderten „ein klares Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung als Voraussetzung für ein Hochschulstudium in Deutschland“. Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner wünschte sich vom Verfassungsschutz, dass er Anwälte, die mit „Linksextremen“ sympathisieren, stärker überwacht. Und ein SPD-Landtagsabgeordneter aus Nordrhein-Westfalen forderte gar ein lebenslanges Demoverbot für Menschen, die auf Demonstrationen Polizisten angreifen.

Immerhin: All diese Politiker haben sich zumindest an einer Diskussion beteiligt – im Gegensatz zu Olaf Scholz (SPD), dem Ersten Bürgermeister von Hamburg. Dieser hatte am Freitag behauptet: „Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation.“ Wenige Tage später legte Scholz nach und bezeichnete „Polizeigewalt“ als „politischen Kampfbegriff“ der linken Szene. Dass selbst Massenmedien über eindeutige Fälle von Polizeigewalt, wie sie auch auf dem Blog G20-Doku festgehalten werden, berichtet haben, schien ihn nicht zu interessieren.

Prisma lädt ein

Die linksradikale Gruppe „Prisma“, die vor anderthalb Wochen von Leipzig nach Hamburg gefahren war und im überregionalen Bündnis „Interventionistische Linke“ (IL) organisiert ist, hatte am Montagabend unter anderem wegen solch offensichtlicher Lügen zu einer Diskussionsveranstaltung im Pöge-Haus geladen. Im Ankündigungstext auf Facebook war zu lesen: „Alle sprechen über G20. Dabei klaffen die Erfahrungen derjenigen, die in Hamburg waren und das mediale Bild der Ereignisse weit auseinander.“

Etwa 100 Personen folgten der Einladung. Zu Beginn präsentierten zwei Prisma-Aktivisten ihre persönlichen Eindrücke und Schlussfolgerungen. Die Mobilisierung für den Gegenprotest sei zumindest in Leipzig „dürftig“ ausgefallen. Bereits Wochen vor dem Gipfel hatte die Gruppe auf dem Debattenblog der IL einen Artikel veröffentlicht, in dem sie einen allzu starken Fokus auf Großereignisse kritisierte. Die Frage, wie diese mit den „Alltagskämpfen“ auf lokaler Ebene verknüpft werden können, würde zu oft in den Hintergrund treten. In Leipzig unterstützt Prisma beispielsweise Menschen, die von Entmietung betroffen sind, oder die Streikenden bei Amazon.

Die Polizei setzt Wasserwerfer gegen Demonstranten ein, welche die ren die Schröderstiftstraße blockieren. Sie gehören zum grünen und blauen Finger der Aktion: "Colour the red zone" im Protest gegen den G20 Gipfel. Einzelne Personen werden weggetragen. Foto: Tim Wagner
Wasserwerfereinsatz gegen Demonstranten. Foto: Tim Wagner

Erwartungsgemäß groß war die Unzufriedenheit über die Polizeieinsätze in Hamburg: „Die Strategie war nicht darauf ausgelegt, möglichst viele Menschen festzunehmen, sondern möglichst viele Menschen zu verletzen.“ Dies sei beispielsweise am Donnerstagabend bei der Autonomen-Demo geschehen, als zahlreiche Menschen gegen die Hafenmauer gedrückt wurden. „Nach diesem Angriff waren die Medien eigentlich auf unserer Seite“.

Auch in den Tagen vor dem G20-Gipfel, als Polizisten offenbar rechtswidrig ein Camp geräumt hatten und mit Wasserwerfern gegen feiernde Menschen vorgegangen waren, sei die Presse „uns wohlgesonnen“ gewesen.

Dies änderte sich jedoch, nachdem am Freitagmorgen mehr als 100 Vermummte zahlreiche Autos und Geschäfte zerstört hatten. Nach den Ausschreitungen in den beiden folgenden Nächten gab es in der Öffentlichkeit dann sowieso fast nur noch ein Thema: Linke Gewalt. Über die friedlichen Aktionen sei deshalb kaum noch berichtet worden, beklagte ein Teilnehmer der Veranstaltung. „Es ist ein falsches Bild entstanden.“

Die IL selbst hatte vor allem dazu aufgerufen, am Freitag die potentiellen Anfahrtswege der Gipfelteilnehmer zu blockieren. Dies sei in Teilen gelungen. Auch an den Aktionskonsens, dass von den Demonstranten dabei keine Eskalation ausgehen soll, habe man sich gehalten.

Vielfältige Themen und Meinungen

Aus dem Publikum kamen während der rund zweistündigen Veranstaltung zahlreiche Fragen, Rückmeldungen und Anregungen. Aufgrund der Vielzahl an Themen wurden diese meist eher oberflächlich behandelt. So betonten manche beispielsweise, dass die Stimmung in Hamburg „sehr besonders“ gewesen sei, es viel Unterstützung von Anwohnern gegeben habe und eine „große Dynamik“ entstanden sei. Vereinzelter Kritik, man hätte bestimmte Ausprägungen der Krawalle verhindern müssen, entgegneten andere, dass dies gar nicht möglich gewesen sei.

Bei der Bewertung, welche Formen des Protests sinnvoll beziehungsweise akzeptabel waren, herrschte Uneinigkeit. Einige sprachen den Sachbeschädigungen und Plünderungen einen politischen Charakter ab und bezeichneten diese als „Frustabbau“. Diese Aktionen hätten demnach kein strategisches Ziel verfolgt, obwohl sie von organisierten Gruppen ausgegangen seien. Die IL hatte in einem Gipfelfazit auf ihrer Homepage geschrieben, dass es „nicht ihre Aktionen“ gewesen seien und man sie „in den Formen und den Zielen vielfach falsch“ finde – man sich jedoch nicht davon distanzieren werde und dafür Verständnis habe.

Dass der Gipfel gescheitert sei und keine nennenswerten Beschlüsse hervorgebracht habe, würden viele Aktivisten gerne im Fokus der Berichterstattung sehen. Stattdessen müssen sie sich nun mit Politikern beschäftigen, die linken Zentren erneut den Kampf angesagt haben – auch in Leipzig, wo einmal mehr über Connewitz und Orte wie das Conne Island oder das Werk 2 diskutiert wird. Die Veranstaltung am Montagabend endete daher mit dem Aufruf: „Nicht einschüchtern lassen und weitermachen!“

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