Es gibt eine Anekdote, die überliefert, dass sich jeden Morgen ein Lehrer vor seine Schüler stellte und minutenlang als Initiationsritus eine Art ausgelassenen Veitstanz vollführte. „Was machen Sie da?“, wurde er (verständlicherweise) von den Schülern gefragt. „Ich versuche, die asiatische Tigermücke von euch fernzuhalten.“ „Aber es gibt hier keine asiatische Tigermücke“, lautete die verwunderte Entgegnung. „Seht ihr, es funktioniert.“ Nicht selten befällt einen das Gefühl, so ginge zeitgemäße Politik.

Vergangene Woche war es wieder einmal so weit: „Die Zeit ist reif, FKK wieder auszudehnen!“, war überall zu vernehmen, seitdem Gregor Gysi sich dem PLAYBOY offenbart und dort bedauert hatte, dass die Nacktbade-Gepflogenheiten vieler DDR-Bürger in der Bundesrepublik auf wenig Applaus gestoßen waren. Abgesehen davon, dass einem wenig einfällt, welche Art Ossi-Besonderheiten damals besonders begrüßt worden wären, verwunderte der wie aus dem Nichts auftauchende Fokus auf eine Renaissance des Ausziehens einen dann doch.

Nicht missverstehen: Ich schätze Gregor Gysi im Allgemeinen als kultivierten und rhetorisch brillanten, und damit nicht ganz ununterhaltsamen Redner im Streben nach einer gewissen Gerechtigkeit in der Gesellschaft, warum er nun jedoch für die BILD grinsend umringt von Entblößten am Müggelsee herumzuliegen wusste, im gleichen Zuge verlautend, dass die DDR, … Verzeihung, … dass FKK nur noch bei ihm zu Hause stattfinde, erschließt sich mir nicht.

Einige seiner Erklärungen natürlich schon: Im Osten sei Nacktheit ein Stück Freiheit, Selbstbestimmung und so Zeugs gewesen. Man kennt das ja. Die Frauen seien von den Männern nicht ständig mit pornösem Blick bespechtet worden, die Männer wiederum beschäftigten sich nicht vordergründig mit der Komparatistik ihrer Gemächte. Viel wichtiger war ihnen die Größe ihres Trabi-Anhängers, z. B. um seltene Waren für einen lebenslangen Hausbau zu ergattern. Da ist zweifellos was dran, obwohl ich mich auch nicht erinnern kann, dass der DDR-Bürger per se als sexuelle Antimaterie rund um die Uhr Kampflieder absang und bei „zweimal untenrum fummeln“ ausschließlich an Schnürsenkel dachte.

Wenn Gysi allerdings eine ungezwungenere Art des Umgangs mit Nacktheit befürwortet und diese aufleben lassen möchte, ist das allzu verständlich, mitunter sogar wünschenswert, nur: Aussicht auf Erfolg wird diesem Ansinnen kaum beschieden sein. Warum? Weil wir in gewisser Weise die Unschuld verloren haben. Und jeder weiß: Wenn diese einmal weg ist, ist sie weg. Da hilft nüscht.

Gerechterweise muss eingeräumt werden, dass wir sie auch allzu bereitwillig weggeschenkt haben. Es sei allein an die exorbitanten Schlangen vor den Beate-Uhse-Shops im Herbst 1989  erinnert. Es schien eine Sehnsuchtswucht in den Lenden dagewesen zu sein, die nun endlich auch einmal kommerziell bedient sein wollte.

Die Angebote damals erschienen unwirklich und riesig. Und es wurden immer mehr. Plötzlich war alles irgendwie im Kommen – überall. Mit dem Privatfernsehen arbeiteten wir uns aus der Tutti-Frutti-Klasse sukzessive tiefer und tiefer. Frauen ließen sich auf RTL2 ihren Busen wiegen, vergrößern, verkleinern, begutachten. Bei Big-Brother wurde zunächst noch unter der Bettdecke rhythmisiert, aus „Zärtlichen Cousinen“ schlüpften bald rabiatere Verwandte. Pseudo-betroffene Reporter-Stimmen wiesen uns in die Geheimnisse der Schließfächer in Swinger-Clubs ein, Lollo Ferrari freute sich in Nachmittags-Talkshows ihres Lebens. Wenn auch nicht mehr für lang. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Und dabei waren dies noch allenfalls peinliche Albernheiten. Das Internet lässt all das Aufgezählte längst wie harmlose Doktorspiele Fünfjähriger wirken. Man mag sich dem Ganzen bis zu einem gewissen Grade entziehen können, in Gänze aber wusste man Bescheid, wenn man mit halbwegs wachen Augen durchs Leben zu laufen gewohnt ist.

Deshalb hilft nichts: All die Bilder, die wir gesehen, all die Entwicklungen, die in unbestritten hohem Maße einen schwer kommerzialisierten Blick auf Nacktheit und Sexualität geschult haben, die kann man mit einem ad-hoc-Auflebenlassen von FKK-Stränden nicht vergessen machen. Das kommt nicht einfach so zurück.

Vielleicht ist das alles aber ein Anfang. Ein schüchterner Versuch, irgendwas zu reparieren. Wahrscheinlicher jedoch: Der Wahlkampf ist’s. Was braucht’s der Worte mehr?

Aber auch dieser ist schließlich noch längst kein Grund, ins Wasser zu gehen.

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