Fünf Jahre lange arbeitete - fast ohne größere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit - ein Forschernetzwerk, das sich mit einem der großen Gesundheitsprobleme unserer Zivilisation beschäftigte. Diesmal ging es nicht um Übergewicht, ADHS, Burnout oder Depression. Diesmal ging es um unsere Leber, die wie kaum ein anderes Organ darunter leidet, wenn wir falsch leben. Mal von den Nieren abgesehen.

Das Virtuelle Leber-Netzwerk (VLN) arbeitete von 2010 bis zum März dieses Jahres als interdisziplinärer Zusammenschluss von rund 70 Expertengruppen aus ganz Deutschland. Sie beschäftigten sich mit grundlegenden Mechanismen und Prozessen in der Leber. Das oberste Ziel und zugleich die größte Herausforderung für die Forscher lag in der Umsetzung ihrer Daten in virtuelle mathematische Modelle. Dabei ging es vor allem darum, die unterschiedlichen Skalen der räumlichen und zeitlichen Organisation der Prozesse in der Leber abzubilden und zu verknüpfen.

“Wir haben es hier mit riesigen Spannweiten zu tun”, erläutert dazu Prof. Dr. Rolf Gebhardt. Er ist Professor für Allgemeine Biochemie an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig und einer der führenden experimentellen Hepatologen Deutschlands. In den vergangenen fünf Jahren war er Mitglied im hochkarätig besetzten Virtuellen Leber-Netzwerk. Dort erforschte er mit seiner Arbeitsgruppe die Entwicklung von der Fettleber zum Leberkrebs, wozu jetzt die abschließenden Auswertungen vorliegen. Zum Wintersemester geht er in den Ruhestand.

18 Jahre lang hat der Forscher in Leipzig gewirkt. Der Biochemiker kann auf eine erfolgreiche wissenschaftliche Laufbahn zurückblicken. Leberzellen begleiten ihn schon seit seiner Diplomarbeit.

“Ich wollte damals wissen: Wie funktioniert ein Organismus, wie die Zelle als kleinste Einheit”, erinnert sich der 65-Jährige. Neben Biochemie studierte Gebhardt in Stuttgart und Tübingen Mathematik und Chemie. Eine der zentralen Fragestellungen seiner Forschung betraf den Stoffwechsel in den Leberzellen, die sogenannte metabolische Zonierung. Vor 18 Jahren wurde er ans Institut für Biochemie der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig berufen, dessen Geschäftsführender Direktor er bis vor drei Jahren war.

Für das Virtuelle Leber-Netzwerk war zwar im März erst einmal Schluss. Aber die Forscher wollen weitermachen.

Initiiert und gefördert wurde das Virtuelle Leber-Netzwerk vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Der Gesamtetat lag bei etwas über 45 Millionen Euro. Neben der Gebhardt-Arbeitsgruppe waren aus Leipzig noch Arbeitsgruppen aus dem Institut für Medizinische Physik und Biophysik und dem Interdisziplinären Zentrum für Bioinformatik beteiligt. Im März 2015 lief das Projekt aus. Ein Folgeprojekt ist geplant, das die Erkenntnisse für den Klinikalltag nutzbar machen soll. So will sich auch Rolf Gebhardt noch länger mit den Ergebnissen des VLN beschäftigen und im Ruhestand, der im Oktober beginnt, einige weitere Fragen erforschen.

Was am Leipziger Forschungsprojekt zur Leber so markant war, ist der Blick auf die molekulare Ebene. Denn Manches, was das gesamte Organ erst so richtig aus dem Gleichgewicht bringt, bahnt sich auf der untersten Ebene an – und kann auch dort beeinflusst werden.

Und die Schaffung von virtuellen Modellen hat geholfen, das sichtbar zu machen

“Das fängt bei submolekularen und subzellulären Strukturen an und hört bei der gesamten Leber auf. Wenn man diese Dimensionen lediglich zusammen in ein Modell wirft, gibt es massive Rundungsfehler, weil die kleinsten Teile der Zellen für das große Organ mathematisch fast nicht relevant sind. Biologisch sind sie dagegen ganz entscheidend. Die Verbindung war einer der wichtigsten Ansätze des VLN”, erklärt Rolf Gebhardt.

Die erstellten Computermodelle des VLN haben eine Zoomfunktion, mit der man in Sekundenschnelle von der Außenansicht der Leber bis in die Zellen blicken kann.

Und das half auch, einen wichtigen Prozess besser zu verstehen, der vielen Menschen zu schaffen macht: die Entstehung der Fettleber.

Um die komplexen Vorgänge in der Leber besser zu verstehen, wählten die Wissenschaftler drei Phänomene aus, die sie am Ende jeweils in ein Modell umwandeln konnten: Die Leberregeneration nach Schädigungen durch Schnitte, die Aufgabe der Leberzellen bei der Abwehr von Entzündungen und schließlich die Entwicklung von einer Fettleber zum Leberkrebs, mit der sich Prof. Rolf Gebhardt vornehmlich befasste.

Bei einer Fettleber, einer sogenannten Lebersteatose, handelt es sich um größere Ansammlungen von Fett in der Leber. Ein Viertel der Bevölkerung ist davon betroffen. Die Steatose – normalerweise ein gutartiges Phänomen – kann eine Entzündungsreaktion auslösen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Zirrhose, einer dann wirklich krankhaften Veränderung des Lebergewebes, und anschließend zu Leberkrebs führt.

Diesen Prozess zu unterbrechen, einen Punkt zu finden, an dem eingegriffen werden kann, war das Ziel für Rolf Gebhardt. Er fand ihn im sogenannten Hedgehog-Signalweg, der das embryonale Zellwachstum steuert. Wie Gebhardt und sein Team im Rahmen des Virtuellen Leber-Netzwerks entdeckten, ist der Hedgehog-Signalweg auch entscheidend an der Regulation des Stoffwechsels beteiligt. Wenn der Signalweg in der Leber unterbrochen wird, verändert sich der Rhythmus der Zellabläufe, es entsteht eine Fettleber. Die Unterbrechung dieses Signalweges ist auch schon aus anderen Forschungsbereichen – etwa aus der Embryonal- und der Krebsforschung bekannt.

“Er ist ein Zahnrad, das die Rhythmik der Zellarbeit mit der Steatose und dem Stoffwechsel verbindet”, erklärt Gebhardt dazu. Und betont, dass die Erkenntnis in der Leber-Forschung einen neuen Weg möglicherweise auch in der Behandlung der medizinischen Behandlung eröffnet. “Das war ein überraschender Befund unserer Forschung, das hat man vorher nicht gewusst. Diese Erkenntnisse stoßen ganz neue Türen auf.”

Als nächstes müssten die Ergebnisse nun in klinischen Studien weiter verarbeitet und auf den Menschen übertragen werden.

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