Ich kann mich ja nicht immer durchsetzen gegen meine wertgeschätzten Kolleginnen und Kollegusse. Manchmal sehen sie mich nur an und fragen sich: Was will der Leo damit sagen? Das Wort benutzt doch jeder! - Achso? - Dann erklärt es mal. - Es gibt jetzt schon eine kleine Liste mit Worten, die ich mir gernstens verbitte. Sonst muss ich Schmerzensgeld erwünschen. Neuankömmling heute: auratisch.

Ich hab wirklich extra nochmal nachgeschaut: Nein, es hat noch keiner von uns in der L-IZ benutzt. Anderswo lässt es der Korrektor durchgehen. Aber vielleicht haben sie auch alle keinen mehr. Bei der “Zeit” zum Beispiel, die gern so tut, als wäre sie heute das Qualitätsmedium unter den deutschen Zeitungen. Da bin ich erst heute drüber gestolpert: “Die Schweizerin klingt mal wie PJ Harveys Schwester, mal wie Kate Bushs Tochter. Doch wo auf ihrem auratischen Album ‘Neuro’ zeigt sie sich selbst?”, fragt Herr Thomas Winkler.

Was, bitte schön, ist ein auratisches Album? – Hat das was mit Hormonen zu tun? Oder ist es besonders schrill? Muss man mit großen Chören rechnen oder mit einem durchgeknallten Schlagzeuger? Oder singt Fräulein Anna Aaron unter Wasser?

Die Wahrheit ist: Es gibt das Wort auratisch nicht. Es ist eine Erfindung aus dem Sprachgewirr der deutschen Kunstwissenschaftler, die immer dann, wenn sie mit ihrer Weisheit nicht weiter wissen, solche Worte erfinden, die nach irgendwas klingen, aber keinen Inhalt haben. Da können Sie selber suchen im Internet. Ich erspare Ihnen die Quellen. Die englischen auch, denn dort wird das Wort auratic genauso blödsinnig verwendet.

Sie können sich auch ruhig einen völlig überdrehten Kritiker im ausgeleierten Anzug, mit langer wirrer Mähne und hoher Stirn vorstellen, wie er verzuckt – pardon: verzückt – vor einem Bild in der Galerie steht und nach Worten sucht: “Das hat so was … das ist so … das fühlt sich an … o .. diese Spannung … dieses Fluidum …”

Noch so ein Wort, das dann als fluid durch die Texte geistert. Man spürt regelrecht den Atem der Verzückung im Nacken.

Da könnte sich der Bursche auch hinknien und beten: “Ich fühle mich so imaginiert! So luzid! So … ach .. auratisch.”Womit wir heute sogar gleich vier Worte haben fürs Album der verbotenen Worte. Oder soll ich’s frei nach Flaubert “Wörterbuch der Gemeinplätze” nennen?

Auratisch: Das seltsame Empfinden des verzückten Geistmenschen, wenn ihm für all die ihn überschwemmenden Gefühle der Verzückung schlichtweg die passenden Adjektive fehlen. Wahlweise zu ersetzen durch: beeindruckend, mächtiggewaltig, phänomenal (das eigentlich einen eigenen Eintrag braucht), Gottogott, Achdulieberschreck, Kaumzuglauben, überwältigend, niederschmetternd, unbeschreiblich, irre, unfassbar oder “Hätte ich genauso gemacht, wenn ich nur mal 5 Minütchen Zeit gefunden hätte.” Man kann es am besten verwenden in Pressekonferenzen mit Kunstjournalisten, in dicken Katalogen oder in philosophischen Feuilleton-Beiträgen, in denen man dem Leser beweisen will, was für ein armseliges Empfindungswürstchen er ist. Wer nicht in der Lage ist, einen auratischen Moment zu empfinden, ist es nicht würdig, in den deutschen Empfindungshimmel aufgenommen zu werden.

Beispiel in nebenstehender Abbildung: eine auratische Semmel, vom Geiste Heideggers erleuchtet und von Picasso als Negation in seinem berühmten Bild “Fragment mit Heiligenschein” retuschiert.

Ansonsten geh ich jetzt weder rüber in mein Korrekturkämmerlein und schrei in meinen Boxhandschuh: “Herr, lass es Hirn regnen. Darf auch Kalbshirn sein. Aber rette uns!”

Euer Leo

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