Kein Zeitalter hat so viel über Fettleibigkeit, Diäten und krank machende Nahrung diskutiert wie das unsrige. Geändert hat sich nichts. Im Gegenteil. Die Märkte sind vollgestopft mit Nahrung, die unser Körper überhaupt nicht bewältigen kann. Die meisten Diäten sind Schwachsinn. Und manchmal muss man, um zu begreifen, warum das so ist, ganz weit zurück. Zurück in die Steinzeit.

Angefangen damit hat 1975 der amerikanische Arzt Dr. Walter L. Voegtlin, auch wenn sein Ansatz, die Steinzeit-Menschen hätten reineweg nur Fleisch gegessen, wissenschaftlich nicht haltbar war. Deswegen war das von Dr. Loren Cordain in den 1990er Jahren veröffentliche Buch “The Paleo Diet” (“Die Steinzeit-Ernährung”) wesentlich erfolgreicher. Durchdachter sowieso. Aber warum ausgerechnet die Steinzeit-Menschen? Warum nicht die fleißigen Leute der Viehzüchter- und Ackerbaukultur, die vor 11.000 Jahren begannen, nach Europa einzuwandern? Erst die Landwirtschaft hat doch unsere Ernährung auf eine stabile Grundlage gestellt und hat die Entwicklung moderner Zivilisationen erst ermöglicht. Was ist daran falsch?

Das Problem ist die Anpassung des menschlichen Körpers an seine Umwelt – und damit an die verfügbaren Nahrungsquellen. Carola Ruff hat das Wichtigste, was man dazu wissen muss, im Vorspann des Büchleins komprimiert dargestellt. 11.000 Jahre sind, wenn es um die genetische Anpassung einer Gattung an neue Umweltbedingungen geht, eher ein Witz. Das sind ganze 550 Generationen. Aber der menschliche Körper mit all seinen Funktionen entspricht noch heute weitgehend dem unserer Steinzeit-Vorfahren. In einem mehr als 2 Millionen Jahre alten Prozess haben sie sich nicht nur zum modernen Menschen entwickelt, sondern sich auch an die verfügbaren Nahrungsquellen angepasst. Und im Wesentlichen ist unser heutiger Stoffwechsel noch genau derselbe, wie ihn unsere steinzeitlichen Vorfahren hatten – bestens geeignet, um mit Nüssen, Beeren, allerlei essbaren Gräsern und Wurzeln, mit diversen Pilzen, Körnern, Fisch und – wenn man erfolgreich war als Jäger – Fleisch fertig zu werden.

Die Logik der Paleo-Ernährung (was sich auf Paläolithikum, die Altsteinzeit bezieht) besteht darin, sich nur noch von den natürlichen Nahrungsmitteln zu ernähren, die auch dem Steinzeitmenschen zur Verfügung standen und mit denen unser Körper zurecht kommt. Denn augenscheinlich kämpfen viele Menschen heute noch mit Unverträglichkeiten, die einfach damit zu tun haben, dass ihr Stoffwechsel mit Milch (Milchunverträglichkeit) oder Gluten (das ist das Klebereiweiß in Getreideprodukten) nicht zurecht kommt. Beide Nahrungsmittel – Milch und Getreide – kamen erst mit der Kultur der Ackerbauern und Viehzüchter in das menschliche Nahrungssortiment. Weitere neuere Zutaten sind ja dann die vielen Zucker- und Zuckerersatzstoffe nebst etlichen künstlichen Aromen, künstlichen Fetten und Unmengen von Salz, mit denen unserer Organismus einfach nichts anfangen kann. Und wenn er damit nichts anfangen kann, scheidet er sie im besten Fall wieder aus oder er lagert sie in seinen Fettdepots ab, weil er das natürlich aus harten Zeiten so gewohnt ist: Wenn Berge von Nahrung da sind, muss für den Hungerwinter vorgesorgt werden. Was übrigens bis weit ins 19. Jahrhundert auch für Europa noch galt. Erst die industrielle Landwirtschaft hat so stabile Nahrungsproduktion ermöglicht, dass Hungerzeiten zu einem außerordentlichen Phänomen wurden. Und erst das 20. Jahrhundert hat Übergewicht zu einem Massenphänomen gemacht.

Es klingt ziemlich logisch, dass die Berge von Nahrung, an die unser Stoffwechsel gar nicht angepasst ist, dafür die Hauptursache sind. Und zwar nicht nur für Übergewicht, sondern auch für eine ganze Reihe so genannter “Zivilisationskrankheiten” von Diabetes bis hin zu chronischen Stoffwechselerkrankungen und Darmentzündungen. Es ist nicht das erste Buch von Carola Ruff, in dem sie darauf eingeht, wie wohltuend und gesundheitsfördernd ein Verzicht auf das scheinbar so billig dargereichte Nahrungsangebot aus den Supermärkten ist.

Und da sie sich mit solchen Umstellungen auskennt, macht sie für die Leser des Büchleins den Einstieg in die Paleo-Enährung auch nicht zum Pflichtprogramm, sondern zum Ausprobierprogramm. Denn Entdeckungen macht man ja nur, wenn man sich bewusst drauf einlässt und nicht zwanghaft ein Ziel erreichen will. Anhand von Zucker hat sie es ja schon mal durchexerziert. Da konnte man schon miterleben, welche Geschmackserlebnisse sich auf einmal (wieder) auftun, wenn man auf die Allgegenwart von (industriell hergestelltem) Zucker verzichtet und die natürlichen Geschmacksstoffe sich wieder auf der Zunge entfalten können.

Der Verzicht auf Getreideprodukte und Milchprodukte ist da natürlich schon eine ganz andere Dimension. Sie gehören so selbstverständlich zu unserem Alltag, dass natürlich die Frage auftaucht: Gehen die überhaupt zu ersetzen? Müssen wir jetzt jeden Morgen Rühreier mit Speck essen?

Müssen wir nicht. Sogar Brot und Kuchen sind möglich, wenn man bereit ist, auf die kleberhaltigen Mehle der Gegenwart zu verzichten. Es ist eine Welt zu entdecken, die natürlich mehr Arbeit macht, denn die meisten Zutaten zu dieser Steinzeitküche gibt es nun einmal nicht im Supermarkt, Fertigprodukte sowieso nicht. Man muss also auch lernen, seine Quellen zur Nahrungsbesorgung neu zu organisieren – vom Bioladen bis hin zum Frischemarkt. Und das gilt auch für die Fleischquelle, denn es nutzt gar nichts, nun auf Fleisch aus der Supermarkttheke zurückzugreifen, das von industriell hochgezüchteten und meist mit Antibiotika vollgepumpten Tieren stammt. Man bekommt so eine Ahnung, warum Bio-Bauernhöfe heute auf einmal so wichtig werden und warum Bio-Produkte einen anderen Preis haben müssen als die Massenprodukte im Supermarkt.

Aber selbst unter Paleo-Verfechtern scheint man nicht unbedingt zum absoluten Purismus zu tendieren. Wenn man auf lieb gewordene Nahrungsmittel nicht verzichten kann oder möchte, dann kann man sie – so Carola Ruff – auch in einem Anteil von 20 Prozent einbauen in seinen Speiseplan, ohne die positiven Wirkungen der Steinzeitküche wieder zu zerstören. Denn wie wird man auf die Kartoffel (die ja erst vor 500 Jahren zu uns kam), auf Kaffee oder ein Stück Schokolade verzichten können?

Nach einer kurzen Einführungen zu den Bestandteilen der Paleo-Küche und zu den (eben auch gesundheitlichen) Nachteilen vieler heutiger Nahrungsbestandteile, kommt natürlich ein praktischer Rezeptteil, in dem die Autorin zeigt, dass man mit einiger Phantasie auch aus den Zutaten der Steinzeitküche eine Menge machen kann. Man begegnet leckeren alten Bekannten wie dem Nussbrot, dem Pflaumenmus, Senf und Omelette und natürlich einigen Fleischrezepten. Und auch das Steinzeit-Müsli darf nicht fehlen.

Für Paleo-Einsteiger also so eine Art kleiner Grundkurs, der erst einmal die Augen öffnet dafür, wie sehr unser Wohlergehen von der richtigen Nahrung abhängt und warum wir an Manchem leiden, was eigentlich immer als zivilisatorische Errungenschaft gefeiert wurde. Womit sich das Büchlein in eine ganze Reihe von Titeln aus dem Buchverlag für die Frau einreiht, in denen zunehmend Wege zu einer natürlicheren und damit auch gesünderen Ernährung gezeigt werden. Nicht beim Auto oder beim eigenen Häuschen entscheidet sich der Wohlstand der Zukunft, sondern bei der Nahrung. Das deutet sich jetzt schon an, denn wo Fettleibigkeit mal ein Zeichen von Reichtum und Überfülle war, ist sie zunehmend ein Signal für Armut und schlechte Ernährung geworden.

Und natürlich ist es eine tragische Entwicklung, wenn sich Menschen gesunde Nahrung einfach nicht mehr leisten können. Wobei auch dieses Büchlein andeutet, dass es nicht unbedingt so sein muss. Das (teure) Bio-Fleisch muss nicht jeden Tag auf den Tisch (stand es ja auch im 20. Jahrhundert eher selten), dafür lassen sich aus Obst und Gemüse viele Gerichte zaubern, die nicht nur gesund und schmackhaft, sondern – im ideellen Sinn – auch reineweg Steinzeit sind.

Das lädt natürlich zum Experimentieren ein, was ja leichter fällt, wen man genau weiß, was man verträgt – und was nicht.

Carola Ruff Paleo. Die gesunde Steinzeitküche, Buchverlag für die Frau, Leipzig 2016, 5 Euro.

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