Eigentlich hatte sich ja Ute Elisabeth Gabelmann, Stadträtin der Leipziger Piraten, was gedacht, als sie im April den Antrag „Barrierefreiheit von Hartz-IV-Bescheiden“ einreichte. Auf den hat jetzt das Sozialdezernat eine Stellungnahme geschrieben, mit der es begründet, warum der Antrag abgelehnt werden muss. Denn für bundesdeutsche Bürokratie ist nun einmal der Bund zuständig. Da kann das kleine Leipzig gar nichts machen.

Das hat sich das Sozialdezernat nicht allein ausgedacht, sondern erst einmal auch die Arbeitsagentur Leipzig um Stellungnahme gebeten. Aber da sieht man eigentlich eher keine Handlungsoptionen, denn dass die Anträge derart unübersichtlich und unverständlich sind, das hat der Gesetzgeber verbockt.

Oder um Reinhilde Willems, die Vorsitzende der Geschäftsführung der Arbeitsagentur Leipzig, zu zitieren: „Rechtliche Regelungen sind Ergebnis des Gesetzgebungsverfahrens. Die Bundesagentur für Arbeit berät zwar die Politik regional wie überregional, ist aber aus ihrer Rolle heraus Exekutive. Als Trägerin der Grundsicherung hat die Bundesagentur für Arbeit die geltenden gesetzlichen Vorschriften umzusetzen. Diese sind im Bereich der Grundsicherung nach dem SGB II sehr komplex. Diese Komplexität spiegelt sich auch in der technischen Umsetzung durch die IT-Verfahren wieder, ist jedoch erforderlich, um Richtigkeit und Rechtssicherheit zu gewährleisten.“

Ist nur die Frage: Wer sichert sich hier gegen wen ab? Der Gesetzgeber gegen die Jobcenter-Patienten oder umgekehrt?

Denn in der stärkeren Position ist ja immer derjenige, der die Paragraphen auf seiner Seite hat. Komplexität in Gesetzgebungen bedeutet in der Regel für die Betroffenen radikal eingeschränkte Rechte. Und schlechteren Durchblick, denn in dem Dickicht der Regelungen geht fast völlig verloren, welche Rechte dem Antragsteller überhaupt noch bleiben. Dazu braucht er in der Regel einen Rechtsanwalt, um diese Rechte überhaupt wahrnehmen zu können.

Und so bleibt durchaus die Frage, wessen Rechtssicherheit die Agenturchefin meint, wenn sie erklärt: “Gesetzgebungsverfahren und Rückschlüsse aus geltender Rechtsprechung fließen in  die Gestaltung der Bescheide ein. Zielsetzung ist eine möglichst hohe Rechtssicherheit und bundesweit hohe Qualitätsstandards in der Bescheiderteilung. Zu den Qualitätsstandards gehört auch die Barrierefreiheit.“

Dass diese Bescheide gar nicht „barrierefrei“ sein können, stellt sie an anderer Stelle fest: „Es verlangt eine Reduktion der Informationen, um komplexe rechtliche Sachverhalte zu vereinfachen. Der ‚Übersetzende‘ müsste individualisiert auf die jeweils betroffene Person eine  Auswahl  treffen, welche Informationen relevant sind und den Originaltext des rechtssicheren Bescheids nach den o.g. Maßstäben verändern. Wesentliche inhaltliche Aspekte können dadurch verloren gehen, was zur Folge hätte, dass der  sog. ‚leichte Bescheid‘ nicht denselben Regelungsinhalt und damit nicht dieselbe (Rechts-)Verbindlichkeit hätte wie der Originalbescheid. Somit wird auch keine höhere Verständlichkeit hergestellt.“

Wenn also jemand individuelle Nachfragen zu seinem hochkomplexen Bescheid habe, könne er sich jederzeit an die MitarbeiterInnen der Arbeitsagentur wenden.

Aber der Bund hat zumindest zwischenzeitlich mitbekommen, dass sein Gesetzwerk alles andere als verständlich ist.

Deswegen hofft Leipzigs Sozialdezernat jetzt darauf, dass der Gesetzgeber selbst den Dschungel lichten möge: „Der Bundesgesetzgeber beabsichtigt, spezielle Regelungen gegen Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen für den Bereich des öffentlichen Rechts zu treffen. Der Bundestag hat am 14.01.2016 den Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsgesetzes – BGG (E) – verabschiedet (Behandlung im Bundesrat noch offen). In § 11 des Entwurfes hat eine Regelung zu Verständlichkeit und Leichter Sprache Eingang gefunden: ‚Träger öffentlicher Gewalt (…) sollen Informationen vermehrt in leichter Sprache bereitstellen. Die Bundesregierung wirkt darauf hin, dass die (…)Träger die Leichte Sprache stärker einsetzen und ihre Kompetenzen für das Verfassen von Texten in Leichter Sprache auf- und ausgebaut werden.‘“

Was dann auch in den regionalen Jobcentern einen gewissen Umsetzungsaufwand mit sich bringen wird. Also genau das, was Reinhilde Willems befürchtet: Mehraufwand und höhere Kosten.

Ein Vorgang, der so nebenbei zeigt, wie der Gesetzgeber mittlerweile tickt: Statt einsehbar viel zu komplexe (und damit willkürliche) Regelungen zu vereinfachen, versucht man das Dilemma des bürokratischen Gestrüpps durch weitere Regelungen – nun in „einfacher Sprache“ – zu lösen.

Dabei sagt im Grunde selbst Leipzigs Agenturchefin, dass in einer vernünftigen Welt ein anderer Weg sinnvoller und zielführender wäre: „Die bessere Verständlichkeit der durch die Jobcenter zu erlassenden rechtsverbindlichen Bescheide ist ausschließlich darüber zu erreichen, dass im Bereich der Grundsicherung über die Legislativorgane eine deutliche Rechtsvereinfachung herbeigeführt wird.“

Das ist doch mal ein Wort.

Aber wie bringt man das einer von Kontroll- und Absicherungswut besessenen Regierung bei? Das Sozialdezernat jedenfalls hat jetzt erst einmal festgestellt, dass es den Antrag ablehnen würde und die Sache für Leipzig nachteilig wäre.

Der Antrag von Ute Elisabeth Gabelmann.

Die Stellungnahme des Sozialdezernats.

Die Stellungnahme der Arbeitsagentur Leipzig.

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