Vorab: Idealismus hätte es eher verdient, in dieser Kolumne beispielhaft beschrieben zu werden. Aber das Ich steht nun einmal weiter vorn in der Reihe des Alphabets. Kann man nichts machen. Wie übrigens auch das „Geben“, was in der Apostelgeschichte des Paulus „seliger denn Nehmen“ ist. Steht auch weiter vorn. Aber diesmal im besseren Sinne.

„Meisterl-ich“ – daneben – „Wohnl-ich“ sehe ich Schwarz auf Gelb an der Post stehen. „Eigenart-ich“ denke … ich in diesem Moment. Ich bin auf dem Wege zum Unterricht. Fröhlich grüßt mich die immer fröhliche Kollegin im immer lauten Schulhaus. Sie scheint, obwohl nicht Musiklehrerin, ihr „Guten Morgen“ gerne zu singen. Als Kind sah ich einmal den Film „Im Morgengrauen ist es noch still“. Das muss vor langer Zeit gewesen sein. Denn jetzt ist es laut, sehr laut. Es sind ja auch viele Ichs auf einem Haufen. Klar. Eine Brownsche Molekularbewegung der Individuen für den Naturwissenschaftler. Bei äußerer Erwärmung erfolgt die heftiger. Das ist auch zu spüren. Auch im Morgengrauen.

„Das Ich im Vergleich zwischen Maria Stuart und Mia Holl“. Abiturstoff Deutsch-Leistungskurs. Leicht oder schwer? Die vor mir sitzende Mixtur aus Chips, koffeinhaltiger Limonade und dennoch vorhandener Müdigkeit ist auch eine Aussage. „Die Lehrer trinken doch auch Kaffee und nicht zu wenig.“ Unbemerkt kontrolliere ich meine Mundwinkel nach braunen Überresten. Alles sauber. Nun, zurück zur Überschrift selbst: Hätte die mich als Schüler fasziniert? Ohne dass ich mir die weiblichen Wesen dahinter vorstellen konnte? Wohl kaum. Gut aussehen musste sie schon. Die eine, die „modernere“, Biologin, trainiert, aber mit der Zeit immer weniger, passt in die Zeit, später aber immer weniger, ergänzt Aussehen durch eigenen, menschlichen Charakter. Nicht schlecht.

Die andere Heldin, die „klassische“, stolz, durch einen Status, durch einen Titel fühlt sie sich zu Recht zu Höherem berufen, verliert ihr Leben und gewinnt dadurch an Stärke. An Individualität und Größe. Wie soll das gehen, werde ich gefragt. Sie verliert das Ego, weiß unbewusst, dass der nahende Tod den Wettlauf mit ihm überflüssig werden lässt, weil es ihn sowieso verliert. Kein Leben, kein Ego. Kein Ich, kein … Passt nicht mehr in die Zeit.

Keinen Drang mehr, es krampfhaft behaupten, darstellen, erkämpfen und erleiden zu wollen, zu müssen. Nur für s-ich zu sein. Hinten versucht jemand vorsichtig, aber nicht vorsichtig genug, eine Club-Mate-Flasche zu kronenentkorken. „Trinken dürfen wir aber, oder?“ Ja, ja, aber nicht diese … Egal. Die Soft-Drink-Industrie ist in der Schule ohnehin unschlagbar. „Alkohol ist ja nicht erlaubt.“ Nicht nur dieser Pass-bloß-auf-du-Blick sondern auch mein Ich stoßen jedenfalls regelmäßig im Bildungsprozess an seine natürlichen Grenzen. Nur das selbst Angeeignete bleibt „hängen“ und hat eine Chance auf Verwirklichung. Auf sinnvoll empfundenem Bestehen in der Realität. Das scheint klar.

Klar ist aber auch, dass kein Schüler einen Lehrer bedrängt, Goethe, Schiller oder Friedrich Dürrenmatt endlich doch einmal aus der unteren geheimen Schublade seines Lehrertisches hervorzuziehen, damit man an ihm dann die klassische Tragödienverlaufskurve und Peripetie erkennt. Letztens fragte ein Schüler, ob das eine Krankheit sei. Im Ernst. Was also tun? Wenn Ferdinand in „Kabale und Liebe“ einen Brief „erbricht“, brüllt alles. Aber nicht, weil das in der „fallenden Handlung“ geschieht. Oder vielleicht doch?

Das Ich hat es schwer in der heutigen Zeit. Es muss mit seiner Entfremdung klarkommen. Es kann alles bewirken und an allem scheitern. Es muss mit der schizoiden Rollenerwartung leben, dass es Soziokulturalität braucht, ein „Wir-Gefühl“, wie wir gerne sagen, es aber ständig darauf orientiert sein muss, trotz Suche nach ihr die eigene Identität zu stärken. Schwach sein aber stark wirken. Wie geht das? „Kommt darauf an, was stark ist.“ sagt Amelie leise rechts vorn. Genau, das ist es. „Das ist doch aber ein Widerspruch, Herr Jopp.“ Schon wieder Max. „Wieso?“ frage ich. „Na, Sein und Wirken können nicht getrennt ablaufen. Da wird man doch verrückt. Dann ist man ja nur noch am Berechnen! Bin ich’s oder wirke ich oder bin ich’s nicht und wirke so?“

Jetzt mit einer Belehrung zu antworten, so in etwa „Es-gibt-Kein-Entweder-oder sondern nur ein Sowohl-als-auch“ hielte ich für kindisch. Denn hier geht es ja nicht um m-ich. Ja, es ist ein Widerspruch. Und nicht nur ein scheinbarer: Das Ich muss sich entwickeln, es muss sich behaupten, und ja, es muss sich auch selbst beurteilen und schätzen können. „Ein jeder gibt den Wert sich selbst. So hoch gestellt ist keiner auf der Erde, dass ich mich selber neben ihm verachte“ heißt es in Schillers „Wallenstein“. Kluge Worte eines Idealisten. Genauso wie: „Gib der Welt, auf die du wirkst, die Richtung zum Guten …“ aus seinen „Ästhetischen Briefen“. So wie Maria Stuart am Ende ihres nicht leichten Weges. Ihr Ich hat verloren. Was hat es gewonnen? Dass es sich nicht mehr zu wichtig nimmt. Nehmen muss. Irgendwann wird es passieren. Die Einsicht erreicht jeden, der Zeitpunkt ist dabei allerdings nicht unwichtig. Und sei es im Angesicht des Todes.

Ernsthaftes Ende, Blicke signalisieren Nachdenklichkeit. Den ersten Satz will ich betonen. „Ich danke Euch. Das war’s für heute.“ Sie sind keine Kinder. Zumindest in diesem Moment nicht. Im besseren Sinne.

Das Bildungsalphabet erschien in der LEIPZIGER ZEITUNG. Hier von A-Z an dieser Stelle zum Nachlesen auch für L-IZ.de-Leser mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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