Zur Debatte um die „Ergebnisse der Expertenkommission zum Fall Al-Bakr und Maßnahmen der Staatsregierung“ sagt Enrico Stange, Sprecher der Linksfraktion für Innenpolitik: Trotz des desaströsen Polizeieinsatzes kam der Terrorverdächtige nicht dazu, seine Planung umzusetzen. Das verdanken wir dem Fahndungsdruck, einer großen Portion Glück und dem Eingreifen junger Syrer, die den Entkommenen festsetzten. Die Defizite des Polizeieinsatzes sind durch den Bericht der Landau-Kommission beleuchtet. Mich interessiert, was dazu geführt hat, dass die Polizei nicht auf Terrorlagen und andere lebensbedrohliche Einsatzlagen vorbereitet ist.

Staatsminister Ulbig adaptiert die Forderung der Expertenkommission nach einer „Kultur der Verantwortlichkeit‘“. Das hätte für ihn heißen müssen, die eigene Verantwortung ebenso zu umreißen wie die des LKA und die Fragen von Training und Ausrüstung.

Ulbig ist seit 2009 im Amt, er hat den Personalabbau mit zu verantworten, der auch ursächlich für die personelle Ausstattung der Polizeieinheiten in Chemnitz ist. Spätestens seit 2014 wollte die Koalition die Personalsituation verbessern und eine Aufgaben-, Personal- und Ausstattungsevaluation der Polizei durchführen lassen. Der islamistische Terrorismus kam nicht wie ein plötzliches Ereignis über uns. Die Kultur der Verantwortlichkeit fordert, dass vor allem der Innenminister offenlegt, was er seit 2009 zur Schließung von Sicherheitslücken getan hat.

Der 7./8. Oktober 2016 war der Lackmustest, inwieweit nicht die sächsische Polizei auf eine solche Einsatzlage vorbereitet war, inwieweit in der Staatsregierung, in der obersten Polizeiführung eine Konzeption dafür vorlag. Im Ergebnis sind die Defizite des LKA zu nennen, die Unfähigkeit, einen Führungsstab dauerhaft und stabil zu bilden und alle Ermittlungsabschnitte zu besetzen. Und was unternimmt der Innenminister? Er präsentiert ein erstes Maßnahmenpaket aus Aktionismus und ordnet an, dass künftig nur die Polizeidirektionen solche Einsatzlagen führen dürfen. Den Beweis, dass sie wirklich besser auf solche Einsätze vorbereitet sind, bleibt er schuldig. Stattdessen räumt er fast beiläufig ein, dass es keinerlei Konzeption dafür gibt.

LKA-Chef Jörg Michaelis hat seinen Laden nicht im Griff und den Einsatz übernommen, obwohl seine Struktur dazu nicht in der Lage war. Er hat erhebliche Führungsschwächen zugelassen. Mit seiner vorzeitigen Ruhestandsversetzung sollte der Weg für einen Neuanfang frei gemacht werden. Allerdings endet die Verantwortung der Staatsregierung damit nicht. Ihr obliegt der  konzeptionelle, personelle, strukturelle und operative Neustart der Polizei. Innenminister Ulbig hat diesen Problemberg aufwachsen lassen. Er sollte den Mut und die Größe haben, um seine Entlassung zu ersuchen, um den Weg für einen Nachfolger frei zu machen.

Klaus Bartl, Sprecher für Rechtspolitik, fügt hinzu: Der Kommissionsbericht setzt auf substanzielle Fehler- und Mängelanalyse, auch Bundesbehörden bekommen zu Recht ihr Fett weg. Liest man die detaillierte Schilderung, welche Erkenntnisse zu Al-Bakr im Vorfeld des Zugriffs zusammengetragen und kommuniziert waren, ist unverständlich, weshalb die Bundesebene nicht von vornherein die Zugriffshandlungen und die Generalbundesanwaltschaft die Ermittlungsleitung an sich zogen. Wir stimmen zu, dass die Regelungen für solche Entscheidungen nachgeschärft werden müssen.

Wir haben uns aber zuallererst an die eigene „Landesnase“ zu fassen. Nachdem der sächsischen Justiz die staatsanwaltschaftliche Leitung des Zugriffs, die ermittlungsrichterliche Vollziehung der Inhaftnahme und der Vollzug der Untersuchungshaft aufgesetzt war, musste sich diese in der Lage zeigen, diese Aufgabe zu bewältigen. Dass dies summa summarum nicht gelungen ist, bleibt ein letztlich dem Rechtsstaat in Sachsen zurechenbares (Mit)Versagen. Dass wir nicht den Rücktritt des Justizministers forderten, hängt mit unserer Auffassung zusammen, dass sich das Justizministerium, wenn Staatsanwaltschaft und Gerichte sich einmal des konkreten Fallgeschehens angenommen haben, herauszuhalten hat.

Auf einem anderen Blatt steht die Mitverantwortung der Staatsregierung und ihrer Vorgänger, die auf die Kriminalitätsbedrohung und sich verkomplizierende und radikalisierende Täterpersönlichkeiten falsch reagierten. Anstatt Staatsanwaltschaften und Gerichte personell und ausrüstungsseitig zu stärken, machten sie Justiz und Polizei zum beliebten Terrain einer überambitionierten Sparpolitik. Nun haben wir einen Justizvollzugsdienst, in dem die Beamten und Angestellten am Limit ihrer Leistungsfähigkeit agieren. Nach der Berechnung der Kommission haben wir zum 01.10.2016 gemessen am Durchschnitt der Flächenländer und berechnet auf die derzeit ca. 3.870 Haftplätze eine Unterbesetzung von mehr als 139 Arbeitskräfteanteilen allein im allgemeinen Vollzugdienst. So lässt sich ein sicherer Strafvollzug nicht gewährleisten, geschweige denn ein nach dem Gesetzesauftrag auf Resozialisierung orientierter Vollzug.

Wer rackert wie der Hamster im Laufrad, knapp 40 Krankheitstage im Jahr pro Beschäftigter kompensieren und dazu unzählige Überstunden in Kauf nehmen muss, dem fehlt es an Nerven und Zeit nachzudenken, ob der mit Überraschungseffekt eingelieferte Terrorverdächtige mit dem Entschluss, die Nahrungsaufnahme zu verweigern, eher eigen- oder fremdgefährdend ist; ebenso, ob bei einem solchen Gefangenen die Eingliederung in den Hofgang präventiver wirkt oder die 15- bis 30-minütige Haftraumkontrolle. Nicht wesentlich anders geht es der Psychologin, die zeitgleich mit der Gefährdungsdiagnose für den eingelieferten Terrorverdächtigen weitere 300 bis 400 Gefangene im Auge haben muss. Wir wissen und schätzen, dass der Justizminister um mehr Personal in der Justiz kämpft. Aber die im jetzigen Doppelhaushalt eingestellten oder nicht gestrichenen Stellen werden für eine anspruchsgerechte Arbeit mit den Gefangenen, erst recht solchen vom Schlage Albakrs, nicht ausreichen.

Die Anstrengungen zur Aufarbeitung des Falls Al-Bakr finden zum Großteil unsere Zustimmung. Wir sagen ja zur Absicht, mehr Personal mit Migrationshintergrund für die Justizvollzugsanstalten zu gewinnen. Wir begrüßen die Überlegung der Kommission zu länderübergreifender Kooperation der Fachdienste in Gestalt sogenannter Poollösungen. Wir unterstützen die Position, im Justizvollzug in hinreichender Zahl Dolmetscher heranzuziehen.

Was wir aber ablehnen, ist die Einführung der Videoüberwachung von Gefangenen. Darin sehen wir den programmierten Abbau von Grundrechten. Dies wäre ein fataler Kotau vor dem Terrorismusproblem. Ablehnend stehen wir auch der Empfehlung gegenüber, über das „verfassungspolitisch überkommende Trennungsgebot zwischen Verfassungsschutz und Polizei“ nachzudenken. Wir haben dieses Trennungsgebot in Sachsen als Verfassungsgrundsatz aufgenommen, und zwar auch aus den Erfahrungen der demokratischen Wende von 1989.

Wir sind generell erst am Anfang der Aufarbeitung des Fall Al-Bakr. Die Arbeit beginnt erst.

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