Das Theater soll als Forum gesellschaftlicher Bewegungen auch am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig sichtbar werden. Es sei immer schon ein Resonanzraum für gesellschaftliche Prozesse gewesen, sagt Prof. Dr. Patrick Primavesi vom Institut für Theaterwissenschaft kurz vor dem Welttag des Theaters am 27. März, der vom Internationalen Theaterinstitut angeregt wurde. „Theater ist daher auch nicht nur eine Kunstform, sondern zugleich ein Labor und Austragungsort für kulturelle Veränderungen“, betont der Theaterwissenschaftler, der seine Professur am Institut seit 2008 innehat.

In den 1960er Jahren wurde der Welttag des Theaters ins Leben gerufen, um Theater weiter im gesellschaftlichen Kontext zu verankern und die Relevanz von Theater über die künstlerische Ebene hinaus aufzuzeigen. Ziel und Intention dieses Welttages sei aber keineswegs, so schreiben die Initiatoren, reiner Selbstzweck. Vielmehr möchte man „die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für das Theater als Ort der Schauspielkunst stärken und die täglichen Leistungen seiner Akteure der breiten Öffentlichkeit ins Gedächtnis rufen“.

Die theatrale Praxis experimentiere schon immer mit Grenzüberschreitungen. Zudem würden kulturelle Identitäten aufs Spiel gesetzt mit einem erweiterten Blick auf aktuelle, politische wie gesellschaftliche Verhältnisse, sagt Primavesi. „Nicht zufällig gibt es am Theater momentan viele Projekte mit Geflüchteten“, berichtet er. Das Theater habe dadurch ein hohes Potential für Integration, aber eben auch die Funktion eines gesellschaftlichen Spiegels, der als Reibungspunkt für ganz unterschiedliche soziale und politische Strömungen funktioniert.

Archivarbeit als aktuelle Aufgabe

Quellen der theaterwissenschaftlichen Forschung sind immer auch Dokumente einer jeweiligen Zeitgeschichte. Wie aber lassen sich diese vielfältigen Beziehungen im Nachhinein erfassen? Theater, Tanz und Performance sind an den Augenblick der Aufführung gebunden, im Zusammenspiel mit einem Publikum. Davon bleiben meist nur flüchtige Eindrücke und spärliche Zeugnisse zurück, Ankündigungen, Abendzettel, Programmhefte und Kritiken, seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch Fotos, Filme oder seit einigen Jahrzehnten Videoaufzeichnungen. Hier ist nach Ansicht Primavesis die Forschung gefragt, nicht nur ein vergangenes Bühnenereignis möglichst aus der Zusammenschau aller verfügbaren Quellen zu rekonstruieren, sondern auch seine Kontexte und Arbeitszusammenhänge zu erschließen und damit die gesellschaftliche und kulturelle Relevanz von Theater.

Am Leipziger Institut für Theaterwissenschaft wird die Historizität theatraler Praktiken und Spielkulturen in Verbindung mit ihrer jeweils aktuellen Ausprägung untersucht. Dabei komme dem Umgang mit Archiven eine besondere Bedeutung zu, die in Zeiten von Digitalisierung und Online-Recherche eher noch wächst. Dem verständlichen Anspruch heutiger Nutzer-Generationen auf bequeme Zugänglichkeit stünden die komplexen technischen und oft auch rechtlichen Probleme entgegen, die eine Online-Publikation von Archivmaterialien mit sich bringt. Dafür bieten auch Sammlungen, die am Leipziger Institut vorhanden sind (Programmhefte, Fotos und Zeitungsausschnitte aus vielen Jahrzehnten) ein reiches Anschauungsmaterial. Das treffe vor allem auf die Bestände des Tanzarchivs zu, die inzwischen in der Universitätsbibliothek zugänglich sind und schrittweise erschlossen werden.

Tanzarchiv digital?

Gegründet wurde das Tanzarchiv Leipzig in den 1950er Jahren als Dokumentations- und Forschungsstelle für Folklore und Volkstanz. 1975 wurde die Einrichtung als Außenstelle der Berliner Akademie der Künste (Ost) zum Tanzarchiv der DDR, erweitert um bedeutende Sammlungen zur Geschichte des modernen Tanzes, vor allem den Teilnachlass von Rudolf von Laban, sowie Bestände zu Mary Wigman und Gret Palucca. Seither dient die Einrichtung der Dokumentation, Erforschung und Vermittlung von Tanz und Bewegungskulturen aller Art, insbesondere auch dem Austausch von Wissenschaft, künstlerischer Praxis und interessierter Öffentlichkeit. 2011 wurde das Tanzarchiv Leipzig an die Universitätsbibliothek überführt. Hier sei man bei der Digitalisierung inzwischen schon einen Schritt weiter, sagt Patrick Primavesi, der als Direktor des Vereins Tanzarchiv Leipzig e.V. diesen Prozess unterstützt: „Durch ein Förderprogramm des Freistaates Sachsen sind bereits Teile des wertvollen und vom Verfall bedrohten Bestandes an Filmdokumenten digitalisiert worden. Eine große Tonbandsammlung wird folgen. Und aktuell wird ein Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft gestellt zur Erschließung der eigentlichen Archivalien, vor allem Originaldokumente wie Briefe, Notizen und Skizzen“, erläutert der Leipziger Professor.

Damit verbessere sich auch die Situation für die Auswertung der Bestände, zu denen es am Institut für Theaterwissenschaft schon einige Forschungsprojekte gab, etwa zu den modernen Bewegungschören der 1920er Jahre sowie zu körperpolitischen Aspekten von Volkstanz, Ballett und Massenchoreographien in der DDR. Projekte zur Digitalisierung des immateriellen Kulturerbes Tanz stehen Primavesi zufolge außerdem im Kontext weiterer bundesweiter Initiativen, an denen das Leipziger Institut beteiligt ist, unter anderem die Einrichtung eines Archivs des Freien Theaters und ein internationales Projekt zur Vernetzung von Theatern und Forschungseinrichtungen in Osteuropa.

Erstes Forschungsprojekt am Centre of Competence for Theatre

Im Jahr 2016 wurde am Institut für Theaterwissenschaft das Centre of Competence for Theatre (CCT) gegründet, das sich nun mit seinem ersten großen Forschungsprojekt beschäftigt. Es trägt den Titel „Fremde spielen. Amateurtheater als Medium informeller und non-formaler transkultureller Bildung“. In Verbindung mit den Aktivitäten des Instituts und des Kompetenzzentrums für Theater bildet der Archivschwerpunkt eine einzigartige Umgebung für eine in Forschung und Lehre lebendige Auseinandersetzung mit der Geschichte von Theater und Tanz und ihrer sowohl kulturellen als auch gesellschaftlichen Bedeutung.

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