LeserclubAm Anfang stand die Aufforderung zum Schöpfungsakt: Studenten der Bauhaus Universität Weimar und der Beuth Hochschule Berlin sollten sich ein konkretes, der Erweckung harrendes Viertel in Leipzig vorknöpfen und ihre Vorstellungen entwickeln, was daraus am Schnittpunkt von urbanem Wohnen und großstädtischer Mobilität werden könnte. Konzeptioneller Nutznießer sollte der Norden der einstigen Militärstadt in Möckern sein.

Also das Areal zwischen S-Bahn-Trasse und Max-Liebermann-Straße. Baulich war über diesen abgeschotteten Stadtteil bis 1990 so gut wie nichts bekannt, und auch militärgeschichtlich erschöpfte sich das Wissen auf die grobe historische Abfolge von sächsischem Heer, Reichswehr, Wehrmacht und Sowjetarmee, die sich im Verlauf von über hundert Jahren nacheinander dort einquartiert hatten. Heute ist es ein “wertvolles Planungsgebiet mit Potential”, so Beuth-Professor Friedhelm Gülink.

Die Architekturstudenten durften deshalb zunächst das Gelände selbst in Augenschein nehmen, um planen zu können. Rücksicht auf Weiternutzung oder Abriss erhaltener Bausubstanz, auf zerklüftete Eigentumsstrukturen an den Grundstücken oder ähnliche Bau-Blockaden sollten sie ausdrücklich nicht nehmen. Aufgefordert waren die angehenden Baumeister vielmehr, schöpferisch-raumgreifend wie Gottvater das riesige Gelände in Besitz zu nehmen, um ihren Überlegungen auf einem quasi-jungfräulichen Areal freien Lauf zu lassen. So entstehen Utopien, aber das muss ja kein Schaden sein, schreien doch genügend Ecken dem Betrachter förmlich entgegen: Wenn es hier doch wenigstens eine Idee gegeben hätte!

Mehr als 100 Studierende, darunter mehrere ausländische Kommilitonen, die in europäischen Erasmus-Studiengängen in Weimar und Berlin gerade ihre Fertigkeiten vervollkommnen, reichten insgesamt 31 Entwürfe für das potentielle Möckern-Filetstück ein. Eine Jury unter dem Vorsitz der Leipziger Baubürgermeisterin Dorothee Dubrau hatte am 15. Juli im Neuen Rathaus schließlich zehn Entwürfe zur Auswahl, um die Besten zu küren.

Wer sich in die Modelle und Architekturzeichnungen vertieft, sieht, dass außer der Gleistrasse, der Olbrichtstraße und der Max-Liebermann-Straße kaum eine andere Konstante den studentischen Planungsakt verließ. Lust am Verändern war gefragt. Die drei ausgezeichneten Entwürfe räumten allesamt mit dem Vorgefundenen auf, und die Ergebnisse tragen höchst unterschiedliche Handschriften. Auch das lässt sich nicht von jedem Wettbewerb sagen. Planen sollte der Architektennachwuchs ja für die kommenden 20 bis 25 Jahre, und zwar unter der Prämisse, dass Leipzig weiter wächst. Damit fanden einige zum Beispiel die bauliche Hülle der Heeresbäckerei einer Weiternutzung für würdig, andere entschieden, dass nach weiteren zwei Dekaden dieser Koloss entbehrlich sein wird.

Generell ging es darum, städtische Räume durch Reduzierung des Verkehrs zurückzugewinnen. Vorbildliche Beispiele aus Amsterdam und Kopenhagen geisterten durch den Festsaal des Neuen Rathauses. “Die sind uns 20 bis 25 Jahre voraus”, befand Prof. Steffen de Rudder, Städtebau-Experte aus Weimar.

Auf Platz 1 kam der Entwurf mit dem Kennwort “Stadt-Fjorde”, eingereicht von Weimarer Studenten der Bauhaus Universität. Deren Vorstellungen schneiden tatsächlich tief in den Stadtraum hinein – oder führen, je nach Perspektive, in breiten Schneisen in Richtung Stadtrand (mit Fahrradschnellweg bis Halle). Räumlich kompakt koexistieren mehrgeschossige Bauten, einladende öffentliche Plätze und ein Siedlungsblock mit Einfamilienhäusern in einem keinteiligen Raster.

Vier Studentinnen der Beuth Hochschule Berlin – darunter ein Duo aus Frankreich – schwebte etwas ganz anderes vor: eine unregelmäßige Blockbebauung um begrünte Höfe herum mit jeweils einer Öffnung im Geviert, um den Blick und die Raumwirkung zu weiten (“jeder Wohnung ein Stück Grün”). S-Bahn-Trasse? Kein Problem. Sie könnte gedeckelt bzw. überbrückt werden, und darauf sollten Wohnhäuser stehen. Dafür vergab die Jury den 2. Preis.

Ebenfalls auf das Sieger-Treppchen schafften es drei weitere Berliner Studentinnen. Für intime Räume, Privatheit mitten in der Großstadt sowie im Schatten der ererbten Großbauten überwundenen militärischen Zuschnitts wurde ihnen Platz 3 zuerkannt.

Leipzig wird dichter und muss dichter werden, lautete das Credo der Gedankenflüge. Ein aus heutiger Sicht leichtsinniger Umgang mit wertvollem innerstädtischen Grund, wie noch in der Schrumpfungsphase vor 15 Jahren, muss der Vergangenheit angehören. “Acht Geschosse sind zuviel – zumindest an dem Standort in Möckern”, befand Bürgermeisterin Dubrau. “Doch vier oder fünf Geschosse sollten wieder die Normalität in der Stadt sein, was nicht ausschließt, stellenweise auch dem kleinen Stadthaus zu seinem Recht zu verhelfen.” Die meisten Entwürfe bewegten sich in dieser Spannweite bzw. entlang einer solchen Traufhöhe.

Würde jemand eine Klammer der ausgezeichneten Arbeiten suchen, er fände sie in den verknüpften Verkehrssystemen der Zukunft, mit ÖPNV und Auto, wo sie jeweils hingehören. Auf die S-Bahn setzen alle Entwürfe, wobei die angehenden Baumeister recht dialektisch dachten und befanden, wenn die silbernen Züge im 10-Minuten-Takt führen, würden viel mehr Nutzer das Fahrrad wählen, um zum Zug zu kommen. Was wiederum heißt, dass aus dem heutigen – freundlich formuliert – standardisierten S-Bahn-Haltepunkt ein wahrer, Identität schaffender Stadtgebietsmagnet werden sollte. Es ist bemerkenswert, dass alle der unabhängig voneinander entstandenen Entwürfe die Idee ausarbeiten, einen vollwertigen Bahnhof zu schaffen – mit Nahverkauf, Dienstleistern und ausreichend Fahrradstationen.

Aufgeweckte Leipziger – bestimmt nicht nur aus Möckern – sollten sich die bis zum 5. August im Bereich des Stadtplanungsamtes im 4. Stock des Neuen Rathauses ausgestellten Entwürfe nicht entgehen lassen. Und allen prämierten und lobend erwähnten Studenten ist zu wünschen, dass sie ihre berufliche Zukunft in einer aufgeschlossenen Umgebung, mit klaren Eigentumsstrukturen und inspirierenden Bauleitlinien ausleben können, auf dass die Entwürfe dieses Sommers nicht verstauben und an den Banalitäten des Alltags zerschellen. Doch dann wären es ja keine Utopien junger Leute mehr …

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