Nein, es ist keine Ausnahme, was da in der Nacht zum 12. Dezember in der Asylsuchenden-Unterkunft Markranstädter Straße 16/18 im Leipziger Westen geschah: Eine junge Frau wurde mitten in der Nacht von ihrer Familie getrennt, unangekündigt, wie das in der sächsischen Abschiebepraxis üblich ist, und vollkommen unerwartet abgeschoben. T. ist gerade 18 Jahre alt. Sie engagierte sich in ihrem Umfeld, übersetzte für Andere mit geringeren Deutschkenntnissen, wollte nach ihrem Schulabschluss eine Ausbildung zur Krankenpflegehelferin beginnen, berichtet die Bürgerinitiative Offene Nachbarschaft Leipzig-Südwest.

Zwei Offene Briefe hat die Bürgerinitiative jetzt geschrieben – einen an die sächsische Landesregierung, deren Innenminister für die besonders harte Abschiebepraxis in Sachsen verantwortlich ist, und einen an die Leipziger Stadtverwaltung. Im Brief an Leipzigs Sozialbürgermeister Thomas Fabian heißt es weiter: “Angesichts der plötzlich bevorstehenden Trennung von ihren Eltern und ihren zwei Brüdern in Panik geraten, versuchte sie sich aus dem Fenster zu stürzen und Suizid zu begehen. Feuerwehr und Rettungsdienst wurden gerufen und stellten auf der Straße ein Sprungtuch auf. Die zu Hilfe eilenden anderen Bewohner/innen ließ die Polizei nicht durch. T.s Mutter flehte die Polizei an, sie auch mitzunehmen, aber ohne Erfolg. T. wurde von der Polizei in ein Fahrzeug gezwungen und noch am selben Tag den polnischen Behörden übergeben.

Bewohner/innen der Gemeinschaftsunterkunft erzählten uns auf einer Weihnachtsfeier in der Nachbarschaft, dass alle Familien der Unterkunft mitten in der Nacht von der Polizei wach geklingelt und durch lautes aggressives Auftreten verschreckt worden seien. Sie hatten Angst um die eigene Unversehrtheit. Seit jener Nacht finden viele keinen Schlaf mehr. Die Polizei verursacht mit dieser rohen Vorgehensweise eine Re-Traumatisierung der Geflüchteten. Wir erheben vehement Einspruch gegen einen solchen gewaltsamen Akt gegen unsere Nachbar/innen, die wir kennengelernt und mit denen wir den Alltag im Kiez geteilt haben.”

Dass die für die Abschiebeaktionen eingesetzten Polizisten selbst leiden unter diesen willkürlichen Einsätzen, ist mittlerweile auch der Staatsregierung bekannt. Die Aktionen, mit denen die zur Abschiebung bestimmten Personen aus ihren Unterkünften geholt werden, finden fast immer in der Nacht statt, wenn die Einsatzkommandos mit dem Überraschungs- und Einschüchterungseffekt rechnen können. Die Betroffenen selbst werden über den Zeitpunkt ihrer Abschiebung – oft in ein sogenanntes “sicheres Drittland” – nicht vorab informiert, haben also auch keine Zeit, sich auf die Trennung vorzubereiten. Und da sie ja in Deutschland Asyl beantragt haben, gibt es für sie in der Regel auch keine Strukturen mehr, in die sie einfach zurückkehren können. Erst recht, wenn in der speziellen sächsischen Abschiebepraxis Familien willkürlich auseinander gerissen werden.

“Als vor zweieinhalb Jahren in der Schule am Adler das städtische Konzept zu einer dezentraleren Unterbringung von Geflüchteten von Ihnen vorgestellt wurde, waren diejenigen, die dieses Schreiben hier unterstützen und noch viel mehr Menschen anwesend und haben Sie angehört und Ihnen applaudiert”, schreibt die Bürgerinitiative an Thomas Fabian. Und sieht in dieser Art Abschiebepraxis das eigene bürgerschaftliche Engagement massiv in Frage gestellt. “Wir als Anwohner/innen haben damals eine Bürgerinitiative gegründet, die sich zum Ziel gesetzt hat, die neuen Nachbar/innen willkommen zu heißen, anstatt – wie in anderen Stadtteilen geschehen – diese für unerwünscht zu erklären. Wir unterstützen die Unterbringung von Geflüchteten in unserer Umgebung nach wie vor und vertreten die Ansicht, dass auch diese Menschen das Recht haben, würdig zu wohnen, sowohl in ihrem neuen Zuhause, als auch in einer wohlgesonnenen Umgebung mit guter Infrastruktur.”

Doch Sachsens Abschiebepraxis scheint auch unter der neuen CDU/SPD-Regierung munter so weiter zu gehen wie zuvor.
Der Offene Brief an die Landesregierung als PDF zum download.

Der Offene Brief an die Leipziger Stadtverwaltung als PDF zum download.

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