Was macht man eigentlich, wenn Offene Briefe mit einem Schulterzucken abgetan werden, Petitionen gegen Winterabschiebungen geradezu als Zumutungen betrachtet werden? Kann es sein, dass die Kultur der in Sachsen Regierenden tatsächlich schon derart abgehoben ist, dass sie die Briefe der besorgten Bürger mit dem Verweis auf bürokratische Gesetzestexte abwimmeln? Die Leipziger Bürgerinitiative "Offene Nachbarschaft Leipzig-Südwest für Flüchtlinge" reagiert auf so viel Arroganz gelassen. Mit einem weiteren Offenen Brief.

Am 22. Dezember hatte sich die Bürgerinitiative “Offene Nachbarschaft Leipzig-Südwest für Flüchtlinge” mit einem offenen Brief an die sächsische Staatsregierung gewandt und auf die rücksichtslose und sinnlose Abschiebung einer gerade 18 Jahre gewordenen Tschetschenin aus der Unterkunft in der Markranstädter Straße hingewiesen. Eine – irgendwie sehr indirekte Antwort war dann am 9. Januar eine Stellungnahme der Landesdirektion Sachsen, die eher darin bestand, die Unterzeichner des Briefes darauf hinzuweisen, dass man die falschen Formulierungen verwendet hatte.

Wahrscheinlich setzen die Rechtsverweser in sächsischen Amtsstuben voraus, das die Bürger jeden Paragraphen in den in Sachsen verwendeten Gesetzestexten kennen. Die junge Tschetschenin hätte demnach keinen eigenen Antrag auf Asyl, sondern einen auf “einstweiligen Rechtsschutz” stellen müssen.

Da werden auch Julia Eckert, Ida Persson und Julia Schlesinger ein klein wenig sarkastisch, wenn sie die Herren Tillich und Ulbig in ihrem Brief darauf hinweisen, dass das sicher ein unentschuldbarer Fehler ist, wenn das einfache Bürger nicht wissen und Asylsuchende erst recht nicht.

“Tatsächlich haben wir die komplexen rechtlichen Details der Aufenthaltssituation von T. und ihrer Familie nicht vollständig überblickt. Wir bitten daher darum, unsere ‘unzutreffende Ausführung’ zu entschuldigen: Es war nicht der Asylantrag, den T. nicht gestellt hatte, sondern der Antrag auf ‘einstweiligen Rechtsschutz’. Dieses Missverständnis widerfuhr uns, obwohl die deutsche Sprache für die meisten von uns Muttersprache ist, viele eine höhere Bildung genossen haben und/oder häufiger beruflich mit Gesetzen, Verordnungen und deren Umsetzung durch Behörden zu tun haben. Gerade deshalb sind wir ganz klar anderer Meinung als die Landesdirektion Sachsen bezüglich der Frage, ob die Familie die rechtliche Situation überblicken konnte.”

Und dann weisen sie den Ministerpräsidenten, der so gern von sächsischer Weltoffenheit schwatzt, und seinen Innenminister, dem die in Deutschland gepflegte Abschiebepraxis immer noch nicht streng genug ist, dass es nicht um Paragraphen und die Selbstgerechtigkeit von Verwaltungsbeamten geht, sondern um etwas anderes, was in der sächsischen Abschiebepraxis schon lange keine Rolle mehr spielt: “Vor allem Eines möchten wir daran anschließend betonen: Wir werfen den handelnden Behörden nicht vor, willkürlich gehandelt zu haben oder gegen Gesetze verstoßen zu haben. Vielmehr verstößt die Abschiebung von T. aus unserer Sicht gegen grundlegende Prinzipien der Menschenwürde: Wir halten es für menschenunwürdig, wenn eine um Integration bemühte, engagierte junge Frau, die hier die Schule besucht und eine für die Gesellschaft wertvolle Ausbildung anstrebt, abgeschoben wird und dabei behandelt wird wie eine Straftäterin. Wir halten es für menschenunwürdig, wenn sie dazu mitten in der Nacht von ihrer Familie getrennt werden soll, weil es dafür “grundsätzlich keine rechtliche Vorgabe gibt.”
Ein paar klare Worte für die Herren mit dem “C” am Revers: Christliches Handeln erweist sich in der Praxis, nicht im Reden.

Und sie listen ihre klaren Forderungen an die sächsische Staatsregierung auf, deren Umsetzung zeigen könnte, ob die beiden Hauptverantwortlichen wirklich nur Worte in den Wind reden oder die Sache mit der Menschlichkeit vielleicht sogar begriffen haben:

“Herr Ministerpräsident Tillich, wir fordern Sie und die sächsische Staatsregierung auf:

– Stellen Sie einen Antrag für eine Rücküberführung von T. und ihrer Familie nach Deutschland sowie ein Bleiberecht für dieselbe an den Petitionsausschuss des deutschen Bundestages!

– Sorgen Sie dafür, dass eine individuelle Prüfung der Situation von Asylsuchenden durchgeführt wird, auch wenn deren Asylantrag z.B. aus formellen Gründen abgelehnt wird!

– Veranlassen Sie einen Abschiebestopp im Winter und verhindern Sie Familientrennungen! Beides ist durch den grundgesetzlich vorgeschriebenen Schutz der Menschenwürde (Art. 1), der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2) und der Familie (Art. 6) dringend geboten.

– Setzen Sie Sich dafür ein, dass die Dublin-II-Verordnung dahingehend verändert wird, dass Geflüchtete nur dann in ein anderes EU-Land abgeschoben werden dürfen, wenn dort menschenwürdige Lebensbedingungen und ein faires Asylverfahren sichergestellt sind!”

Denn ein Problem – das sich Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) weidlich zunutze macht, ist die Tatsache, dass Deutschland nach der Dublin-II-Regel keine Asylbewerber aufnehmen muss, die über ein Drittland eingereist sind. Was fast unmöglich ist, denn Deutschland ist von lauter solchen Drittländern umgeben, die damit im Grunde die Hauptlast der Asylsuchenden in Europa übernehmen. Wenn es Flüchtlinge – etwa aus dem, vom Bürgerkrieg zerrissenen Tschetschenien – dennoch nach Deutschland schaffen, werden sie in der Regel wieder “abgeschoben” in ihre Erstaufnahmeländer – in diesem Fall Polen.

Wie Polen mit den Asylsuchenden aus dem Osten umgeht, schreiben die drei Autorinnen in ihrem Brief auch. Das macht die Haltung des sächsischen Innenministers nicht die Spur menschlicher.

Aber vielleicht liest ja diesmal wenigstens Stanislaw Tillich den Brief und er landet nicht wieder nur bei einem juristisch gebildeten Mitarbeiter der Landesdirektion, der nach den Stellen sucht, an denen die Briefschreiberinnen die so einfachen wie menschlichen deutschen Gesetze nicht richtig gelesen haben.
Der Offene Brief als PDF zum download.

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