LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug aus Ausgabe 32Die Sonne steht hoch an diesem 28. Mai 2016. Hoch über dem Leipziger Rathaus, hoch über den Menschenmengen des 100. Katholikentages, und so manchem auf dem Leipziger Ring läuft der Schweiß über die Stirn. Ein Demonstrationszug von rund 1.000 Menschen wälzt sich am Neuen Rathaus vorbei. Hinter den dicken Mauern, irgendwo da oben soll er sein – Sigmar Gabriel (SPD), Vizekanzler, Wirtschaftsminister, Wackelkandidat in Sachen Freihandel, auf seinem Besuch zum Katholikentag 2016 bei Oberbürgermeister Burkhard Jung.

Von unten schallen Rufe herauf: „TTIP! Stoppen! CETA! Stoppen! TiSA! Stoppen!“, die Demonstranten rufen es immer wieder und hoffen halb ernst, halb im Spaß, Gabriel möge es hören. Vielleicht einen kleinen Moment der Aufmerksamkeit, der Verunsicherung da oben wollen sie erzeugen, bevor der bunte Zug auf den Martin-Luther-Ring einbiegt, zurück Richtung Naturkundemuseum zur Abschlusskundgebung.

Auf einem Pritschen-Wagen steht Mike Nagler von „attac“ und hat ein Mikrofon in der Hand. Er erläutert nochmals den Laufenden, warum es auch um die Person Gabriel und v. a. die SPD geht, wenn im Oktober 2016 die EU über CETA, das Freihandelsabkommen mit Kanada, abstimmen soll. Allen, die sich damit befassen, gilt CETA als die Vorlage für TTIP, das Freihandels-Abkommen mit den USA.

Was hier von Verbraucherschutzstandards und Schiedsgerichtsregelungen bis zu Konzernrechten Eingang findet, kann auch den USA nicht verweigert werden. Zumal bereits der Abschluss von CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement) Konzernen auf beiden Seiten des Atlantiks die Möglichkeit einräumt, über Tochterfirmen auf EU und USA zuzugreifen und über geheime Schiedsgerichte dementsprechende Klagen gegen neue Verbraucherschutzregelungen der Staaten einzureichen.

Der Leipziger Aktivist Nagler betont deshalb die Beschlüsse der SPD, welche an die Verhandlungen im Dezember 2015 Maßstäbe angelegt hat, an welche sie sich nun halten müsse. „Europäische Schutzstandards dürfen nicht sinken, bei der Daseinsvorsorge, beim Verbraucher- und beim Datenschutz“, zitiert Nagler. Dass dies in den Verträgen so abgesichert sei, glaubt hier unter den Demonstranten, trotz aller versuchter Verschwiegenheit der kanadischen, europäischen und US-amerikanischen Verhandler, keiner ernsthaft. In den Verhandlungen scheinen sich alle auf den „Abbau von Handelshemmnissen“ zu konzentrieren – ein „Kuhhandel, der da abläuft“, so Nagler, eine Abwärtsspirale bei den Schutzstandards, wie auch von Greenpeace geleakte Dokumente belegen.

Hendrik Fischer aus der Leipziger SPD wirbt für seine Kampagne. Foto: Michael Freitag
Hendrik Fischer aus der Leipziger SPD wirbt für seine Kampagne. Foto: L-IZ.de

Eher lustig erscheint, angesichts des bisherigen Verlaufs der Verhandlungen, der vom Wagen herunter nochmals verlesene Beschluss der SPD, dass es einen transparenten Prozess in den Verhandlungen geben müsse. Ein Mann, der hinter dem Wagen herläuft, kann da nur noch grinsen. Vor ihm tragen zwei junge Mädchen ein Transparent, auf welchem sie sich gegen den Einsatz von Giften in der Landwirtschaft wenden. „Wir wollen nicht, dass noch mehr Bienen sterben“, steht da zu lesen. Die Ängste sind längst da, die Geheimhaltung vieler Verhandlungspapiere hat die Menschen zu Gegnern der Freihandelsabkommen gemacht.

„Am Ende müssen alle Parlamente und das EU-Parlament zustimmen“, so Nagler weiter zu den Beschlüssen, die die Sozialdemokratie sich Ende 2015 auf die Fahnen geschrieben hat. Wenige Tage später wird Luxemburg als erstes Parlament ein europaweites Signal zu CETA setzen und dieses ablehnen, während erste Gerüchte laut werden, dass es in der EU Versuche geben soll, das Abkommen bereits im Juni 2016 auch ohne Parlamentsbeschlüsse „vorläufig“ umzusetzen.

Der SPD droht, wortbrüchig zu werden

Ebenfalls beschlossen hat die SPD, keine „undemokratischen Schiedsgerichte zuzulassen“. Das Problem lautet nun also, dass auch in den CETA-Verhandlungen genau diese geheim tagenden Gerichtsbarkeiten unter anderem Namen, doch in gleicher Absicht auftauchen.

Dies weiß auch Hendrik Fischer von der SPD, der im Ortsverein Leipzig-Südwest aktiv ist. Auf dem Vorplatz des Naturkundemuseums angekommen, steht er mit dem Mikrofon in der Hand auf dem Pritschenwagen. Er hat eine Kampagne namens „Sozis gegen TTIP“ ins Leben gerufen. „Wir sind an der SPD-Basis genauso sauer wie ihr!“, ruft Fischer. 2.500 Ortsvereine innerhalb der SPD hätten sich hinter den von ihm mitgestarteten Aufruf, alle Verhandlungen sofort abzubrechen, gestellt. Im September 2016 will sich die SPD zum Parteitag treffen. Dann wird es um die roten Linien der Sozialdemokratie in Sachen Freihandel gehen. Und die Frage, ob die deutsche Sozialdemokratie wortbrüchig werden wird. An der Basis scheint man bereits zu wissen, was dies im Hinblick auf kommende Wahltermine bedeuten könnte.

Im Oktober dann möchte das EU-Parlament zur Abstimmung über CETA schreiten. Die Initiative „Vorsicht Freihandel!“ wird gemeinsam mit weiteren Initiativen versuchen, ein weiteres Signal zu setzen: „Am 17. September 2016 wollen wir unsere letzte Demo noch um ein Vielfaches toppen: Wir planen eine überregionale Großdemo und peilen eine fünfstellige TeilnehmerInnenzahl an. Unterstützt werden wir dabei vom bundesweiten Trägerkreis der letzten beiden großen Demos in Hannover und Berlin“, so die Initiative.

Dieser Artikel erschien am 13.05.16 in der aktuellen Ausgabe 31 der LEIPZIGER ZEITUNG. An dieser Stelle zum Nachlesen auch für L-IZ.de-Leser.

Bildergalerie vom 28. Mai 2016 in Leipzig. Fotos: L-IZ.de

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Wir sollten wirklich alle viel öfter mal auf die Straße gehen. Für viele hat sich der Protest ja oft schon mit dem teilen von Facebook-Bildchen erledigt, das wird niemanden beeindrucken.

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