Es gibt sie tatsächlich im Leipziger Stadtgebiet: Ortsteile, in denen sich kaum etwas bewegt, in denen die Entwicklung seit Jahren erstarrt zu sein scheint, weil sie irgendwie im toten Winkel der Wahrnehmung liegen. Der Leipziger Osten und der Leipziger Westen sind regelmäßig im Fokus der Stadtentwicklung. Aber bei "Leipziger Norden" denkt man eher an BMW als an Mockau.

Natürlich zeigt der Ortsteilkatalog immer nur eine Momentaufnahme. Leipzig wächst nicht gleichmäßig vor sich hin, sondern in Schüben. Die Ortsteile, die gleich nach 1990 zum Schwerpunkt der Stadtentwicklung wurden, sind fast alle schon wieder aus der Förderkulisse entlassen, haben sich als begehrte Wohnviertel für unterschiedliche Ansprüche etabliert und schlagen sich hingegen eher mit sekundären Problemen herum.

Sekundär in diesem Fall nicht abwertend, sondern eher in der Dimension: Wachstumsproblem. Auf einmal fehlen Dinge, die vor 20 Jahren überhaupt kein Thema waren, als es noch um den Verfall der Bausubstanz und eine Bewahrung intakter Quartiersstrukturen ging. Connewitz, Waldstraßenviertel und Gohlis-Süd waren damals die Schwerpunkte. Die sekundären Probleme, die mittlerweile überall auftauchen, wo diese Quartiere sich gefüllt und entwickelt haben, heißen: Mangel an Kindertagesstätten, Schulen und Parkplätzen.

Die Reihe der Ortsteilkataloge zeigt auch, wie ein Ortsteil nach dem anderen in den letzten Jahren in diese sekundären Probleme hineinwuchs – weil es eben vor allem junge Leute waren, die das Quartier zuerst als Pioniere besiedelten und Familien gründeten. Nach den genannten frühen Fördergebieten mauserten sich sehr schnell einige andere Gründerzeitquartiere zu solchen aufblühenden Vierteln – die Südvorstadt und Schleußig etwa. So dass sich die “sekundäre Problemzone” mit ihrem mittlerweile politisch heiß diskutierten Mangel an Kindertagesstätten und Schulen als grüner Gürtel von Nord nach Süd rechts und links von Elster und Auwald abzeichnet. Seit der EXPO 2000 sind Plagwitz und Musikviertel dazu gekommen.

Und welche Mühe sich die Stadt gab, den Leipziger Osten als traditionelles Arbeiterquartier vor dem Abdriften zu bewahren, ist ja bekannt. Doch während in den vergangenen zehn Jahren der Fokus der Aufmerksamkeit auf dem Osten und dem Westen lag, nahmen die Ortsteile im Schatten dieser Fördergebiete eine zum Teil sehr verhaltene Entwicklung. Die Bevölkerungszahl stagnierte. Hausbesitzer sahen nicht wirklich Anreize, hier zu sanieren. Die ortsteilbestimmenden Magistralen verödeten.

In Sachen Georg-Schwarz-Straße und Georg-Schumann-Straße hat die Stadtverwaltung das Problem erkannt. Spät erkannt. Denn im Dilemma stecken die Magistralen seit Jahren. Doch wo diese Magistralen (wenn auch nur in Teilen) vom neuen Wachstum der Stadt erfasst werden, entstehen auf einmal auch wieder aktive Bürger-Milieus, die Druck auf die Stadtpolitik machen, die hingenommenen Erstarrungen zu lösen. Ein Großteil der Georg-Schumann-Straße führt mittlerweile durch Wohnquartiere, die in den letzten zehn Jahren ein stilles aber nachhaltiges Wachstum erlebt haben. Gohlis-Mitte etwa, das im Schatten von Gohlis-Süd, das seit 2001 ein Bevölkerungswachstum von 32,4 Prozent hinlegte, auch ein überdurchschnittliches Wachstum von 18,1 Prozent schaffte.

Zum Vergleich das Leipziger Bevölkerungswachstum insgesamt: 8,8 Prozent.Man kann regelrecht zuschauen dabei, wie die Ortsteile einer nach dem anderen von dieser Wiederbevölkerung erfasst werden. Und man sieht natürlich, welche Quartiere seit 2000 wirklich “gezündet” haben. Plagwitz, das einstige EXPO-Quartier, mit 46,3 Prozent, das Waldstraßenviertel mit 4,2 Prozent, die Südvorstadt mit 31,4 Prozent. Und ohne dass es dafür irgendeinen Rahmenplan der Stadtverwaltung gab, hat das Wachstum auch die eher problematischen Vorstädte erfasst. Teilweise wurden sie zu neuen Top-Adressen für die Besserverdienenden (Zentrum-Ost / Grafisches Viertel, + 33,7 %) genauso wie Zentrum-Süd (zu dem auch das Musikviertel gehört, + 33,1 %).

Ortsteile, die für die letzten zehn Jahre eine Wachstums-Null stehen haben, sind also unübersehbar noch abgekoppelt von dieser Entwicklung. Und es ist nicht immer nur ihre abgelegene Lage oder ihre einförmige Bausubstanz, die dafür mögliche Gründe sind (wie bei Grünau, Mockau-Nord, Paunsdorf oder Schönefeld-Ost). Auch wenn der Blick auf die Stadtkarte zeigt, dass es im Wesentlichen Ortsteile in Randlagen sind, die Bewohner verlieren oder stagnieren.

Aber es fallen auch Ortsteile im Stadtgebiet auf, in denen die Entwicklung seit Jahren festzustecken scheint. In Mockau-Süd etwa, in Marienbrunn, Lößnig und Dölitz. Für alle vier Ortsteile ist typisch, dass sie praktisch erst in den letzten drei, vier Jahren wieder Anschluss an die Stadtentwicklung gefunden haben. Sie stehen praktisch für die vierte Welle der Re-Urbanisierung, nachdem in den fünf Jahren zuvor Reudnitz, Stötteritz, Anger-Crottendorf und Lindenau davon erfasst wurden.

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Sie sind noch eine Art Transitstation mit leicht unterdurchschnittlichem Bildungsniveau, leicht überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit, leicht gesunkenem Durchschnittsalter. Von den Pioniervierteln wie Lindenau unterscheidet sie vor allem eines: Die Wohndauer in Leipzig. Während die heutigen Lindenauer im Durchschnitt seit 22 Jahren in Leipzig wohnen, bringen es die Einwohner von Mockau-Süd auf erstaunliche 39,2 Jahre.

Wo die Dölitzer auf 36 Jahre kommen, kommen zum Vergleich die Südvorstädter auf etwas über 25 Jahre. Und auch im Waldstraßenviertel dominieren eher die in den letzten Jahren nach Leipzig Zugezogenen – dort liegt die durchschnittliche Wohndauer in Leipzig bei 21 Jahren. Und in Lößnig liegt die Leipzig-Wohndauer ebenfalls deutlich über 39 Jahren. Man hat es also in diesen Transitquartieren auch mit einer relativ standorttreuen Wohnbevölkerung zu tun. Da kann es interessant sein, ob sich die Quartiere nun durch den verstärkten Zuzug deutlich verändern. Und dann vielleicht auch mit den Sekundär-Problemen ihren Ärger bekommen.

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